Klaus Trappmann
In: Städtische Kunsthalle Recklinghausen (Hrsg.): Fahrendes Volk.
Spielleute, Schausteller, Artisten. Katalog zur Ausstellung.
Recklinghausen 1981, ohne Seitenangabe
Fahrende Leute gibt es von alters her. Wo immer sie auftauchen, die Zauberer und Wahrsager, Klopffechter, Possenreißer, Puppenspieler und Pantomimen, die Bären-, Affen- und Hundeführer, Jongleure, Seiltänzer, Kunstreiter, Komödianten, Sänger und Musikanten, versammeln sich Schaulustige und Neugierige. Wenn Messen, Wallfahrten oder Konzile, wenn Jahrmarkt, Kirchweih und Erntedank den ländlichen und städtischen Alltag unterbrechen, haben sie ihre große Stunde. Für einen Augenblick vermischen sich die Welten. Die Fahrenden haben ihren Verdienst; Bauern, Bürger und Adlige ihr Vergnügen.
Aber der Schein trügt. Man sieht zwar ihren Kunststücken gerne zu, aber die Menschen, die sie vorführen, werden mißachtet und verfolgt. Fahrende Leute gehören zu den Parias der Gesellschaft.Und so findet sich, wer Genaueres über sie und ihr Leben erfahren will, unversehens in Gesellschaft von Landgendarmen, Schultheissen, Gefängnisaufsehern, Amtmännern, Kriminalräten und Staatsanwälten. Sie sind ihre eifrigsten Chronisten — vom Polizeistandpunkt, versteht sich. Ein bedrückendes Netz von Überwachungen und Strafen sowie zahllose Erlässe, Magistratsentscheidungen und Gesetze zeigen, wie teuer die Fahrenden für ihr ungebundenes Leben bezahlen müssen. Kaum irgendwo haben sich die sozialen Erschütterungen, aber auch die Obsessionen und kollektiven Verdrängungen einer Gesellschaft schlimmer auswirken können als bei den Verfemten und Außenseitern von der Landstraße. Die Freiheit, die wir in ihrem Leben vermuten und bewundern, hat einen großen Preis.
In der Alten Welt glaubte man, daß die Götter arm und zerlumpt auf der Welt erscheinen, um die Menschen zu prüfen. Fremdlinge und Bettler nahm Zeus unter seinen besonderen Schutz. Wehe dem, den der Fluch eines abgewiesenen Bettlers traf. Die ‚flehenden‘ Leute gehörten ebenso wie Athleten, Akrobaten, Seher und Ärzte zu den Demiurgen, den öffentlich Tätigen – den „Eingeweihten“.
Die Nachfahren der orientalischen und griechischen Gaukler dagegen, die mit dem Zerfall des Römischen Reiches nach Norden gezogen sind, gelten als ‚unehrliche‘, ehrlose Leute. In dem Maße wie christliche Arbeitsmoral, Standesdünkel und Zunftgeist die Entwicklungsgeschichte des letzten Jahrtausends zu bestimmen beginnen, geraten die ‚Leute von unterwegs‘ an den Rand der Gesellschaft. Ursprünglich heilige, mit magischer Wertschätzung verbundene Tätigkeiten aus vorchristlicher Zeit werden geächtet und für unrein erklärt. Aus Scheu wird Abscheu. Im Gesellschaftsgefüge der christlich-abendländischen Gesellschaft ist kein Platz mehr für das Fahrende Volk. Juden, Türken, Zigeuner und Wenden ebenso wie Spielleute, Bettler, Totengräber, Henker und Huren zählen in der mittelalterlichen Ständeordnung zu den Rechtlosen und Verfemten. Sie stehen nicht nur auf der untersten Stufe, sondern außerhalb der Gesellschaft. Sie sind Verworfene, Standeslose, Outcasts.
In einer starren, an Standes- und Ortszugehörigkeit orientierten Rechtsordnung sind die Heimat- und Besitzlosen vogelfrei. Gaukler, die außerhalb ihrer Heimatpfarre umherziehen, stellen die Landfriedenserlässe des 13. Jahrhunderts ausdrücklich extra pacem. Nach den Rechtsaufzeichnungen des Mittelalters kann man sie ungestraft beleidigen, verletzen und berauben.
„Wenn jemand einen leichten Mann, etwa einen Bettler oder einen bösen Spielmann schlägt, so soll er dem Richter nichts dafür zu geben schuldig sein, und auch dem Geschlagenen nichts, außer drei Schläge, die mag er ihm noch fröhlich dazu geben. „ (Haimburger Stadtrecht)
Es ist erlaubt, einen Klopffechter „um Geld zu erschlagen wie einen herrenlosen Hund, ohne Buße“ (Hampe). Vergewaltigung fahrender Frauen wird in verschiedenen Rechtsbüchern für straflos erklärt.
„Spilleut und gaugkler sind nicht leut wie andere Menschen, denn sie nur ein Schein der menschheit haben, und fast den Todten zu vergleichen sind.“ (Sächsisches Weichbildrecht)
Die so Geächteten dürfen weder Zeugen, Schöffen und Richter sein, noch können sie Eide leisten. Sie sind ausgeschlossen von Abendmahl, Altar und kirchlichem Begräbnis. Noch 1760 muß der Sarg der berühmten Theaterprinzipalin Caroline Neuberin des nachts über die Kirchhofmauer gehoben werden, nachdem Tage zuvor der Zimmerwirt die Sterbende aus dem Haus gewiesen hat, damit es durch den Tod einer Ehrlosen nicht befleckt werde.
Fahrende gelten als lehnsunfähig. Ehen mit Angehörigen ehrbarer Berufe sind ihnen versagt. Als gesetzliche Erben kommen sie nicht in Betracht. Die bayrischen Landrechte von 1553 und 1616 bestimmen, daß ein Kind enterbt werden kann, „so ohne der Eltern Willen sich in leichtfertig Übung und Buebenleben begebe, als so es ein Freyhartsbueb oder ein Gauckler wurde, oder liesse sich, mit den Thieren zu kämpfen umb Geld bestellen“. (Danckert)
Der Zutritt zu den Handwerkszünften ist den Fahrenden verwehrt. So forderte noch im 18. Jahrhundert die Goldschmiedezunft von Köln von jedem vorsprechenden Gesellen einen amtlichen Nachweis, daß er weder eines Bartscheers, noch Baders, noch Leinewebers, noch eines Spielmanns Kind sei. Was das Zunftverbot bedeutet, kann nur ermessen, wer weiß, daß die mittelalterliche Gesellschaft den einzelnen weit mehr als heute über die Zugehörigkeit zu einer „Korporation oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen“ (J. Burckhardt) definiert. Für Fahrende bleiben die Stadttore verschlossen. Der Marktplatz, auf dem die Fahrenden ihre Fertigkeiten und Künste feilbieten, liegt lange Zeit außerhalb der Stadtmauern. Erst die Reichszunftordnung von 1731 und die Französische Revolution heben die ‚Unehrlichkeit‘ der meisten Fahrenden auf. Aber an der öffentlichen Mißachtung ändert sich wenig. Vor allem der Haltung der Kirche ist es zuzuschreiben, daß sich Verachtung und Verteufelung des Fahrenden Volks so tief im kollektiven Bewußtsein der Bevölkerung verankert hat.
Mit Haß und Abscheu verfolgt sie die, die mit Kunststücken und Musik, Possen und Parodien auf weltliche und kirchliche Herren beim Volk den Traum von einem besseren Leben wach halten.
„Fort mit dir, wenn du irgendwo hier unter uns bist, denn du bist uns abtrünnig geworden mit Schalkheit und Liederlichkeit und darum sollst du zu deinen Genossen gehen, den abtrünnigen Teufeln; denn du heißt nach den Teufeln und bist nach ihnen genannt: du heißt Lasterbalg, dein Geselle Schandolf, so heißt ein anderer Hagedorn, dieser Höllenfeuer, jener Hagelstein. So hast du einen schimpflichen Namen wie deine Gesellen, die Teufel, welche abtrünnig sind.“ (Bruder Berthold von Regensburg, 13. Jh.)
Mit Moralpredigten, Drohungen und Verordnungen versuchen kirchliche und weltliche Eiferer eine Fraternisierung mit den ‚gottlosen Müßiggängern, Volksverderbern, Bettlern und Gaunern‘ zu verhindern.
„Ein Mensch, der den Gauklern anhanget, überkommt gar bald eine Frauen, deren Namen sein wird: Armut. Wie aber wird heißen dieser Frauen Sohn? Fürwahr: Verspottung. Gefällt dir des Gauklers Wort? Thu als ob du es nicht hörtest und an anderes dächtest. Denn wer da lachet und sich treuet an den Worten eines Gauklers, der hat sich damit selbst ein Pfand des Todes gegeben.“ (Niclas von Wyle, 15. Jh)
Man scheint sich seiner Schäfchen nicht sicher zu sein. Wo Predigten nicht mehr genügen, müssen dann Strafen helfen. Eine Nürnberger Polizeiordnung aus dem 15. Jahrhundert verbietet bei Strafe von einem Pfund neuer Heller allen Bürgern, Bürgerinnen und Untertanen, herumziehende Landfahrer zu beherbergen. Artikel 137 der Polizeiordnung von Köln aus dem Jahre 1665 bestimmt:
„Die jungen starken Bettler, welche arbeiten, Vieh und dergleichen hüten können, ingleichen die Tartaren, Zigeiner, Wahrsager, Schalksnarren, Landfahrer, unnütze Sänger und Reimsprecher, als welche unseren Stifts-Unterthanen zum höchsten beschwerlich sein und oftmals viel Böses verüben, soll niemand beherbergen bei Strafe von 15 fl.“ (nach Hampe)
Bis ins 18. Jahrhundert lassen sich Geldbußen gegen Leute nachweisen, die Fahrende bewirtet, beherbergt, im Dorf geduldet oder ihnen etwas abgekauft haben. Meist selber arme Leute und von Ächtung bedroht, fühlen sie sich den Fahrenden eher verbunden als ihren Herren: Eckhardt Liepp aus Oberurff wird 1750 dafür bestraft, „daß er Zigeuner Herberget“; die Gemeinde Rengshausen muß teuer bezahlen, daß sie 1728 „die ihnen in verwahrung gegebene Zeugeuner studio et data opera entwischen laßen“. Ein Mann aus Ohmes, der Wirt von Ronshausen und die Frau des Schulzen von Iba schließlich werden mit Geldbußen belegt, weil sie von Zigeunern Sachen gekauft oder sich von ihnen wahrsagen ließen. (zit. nach A. Höck)
„Tartaren, Haiden, Zigeuner“ nennt die ländliche Bevölkerung seit dem 16. Jahrhundert alle, die im Familienverband oder zu mehreren von Ort zu Ort ziehen. Zigeuner werden sehr schnell nach ihrer Ankunft in Mitteleuropa zu Beginn des 15. Jahrhunderts zum Inbegriff allen Fahrenden Volkes und damit zur Zielscheibe grausamster Verfolgungen und Sanktionen. Hat man zu Anfang noch geglaubt, es handele sich bei den Zigeunern um arme ägyptische Wallfahrer, die — zu siebenjähriger Pilgerschaft verbannt — durch Europa ziehen, werden sie schon 1498 vom Landtag zu Speyer zu „Verrätern an den christlichen Ländern“ erklärt und außer Landes gewiesen. Von nun an wird ihre Wanderung durch Europa zu einem Spießrutenlauf, demgegenüber alle bisher aufgezeigten Gemeinheiten gegenüber dem Fahrenden Volk verblassen müssen.
Wer sich trotz Landesverweis noch einmal innerhalb der Landesgrenzen blicken läßt, wird geprügelt, öffentlich ausgepeitscht, an den Pranger gestellt, geschoren, verstümmelt und oftmals mit Trommelwirbel und unter den neugierigen Blicken des Publikums zur Stadt hinausgetrieben. Den so Gezeichneten ist die Rückkehr in ein normales Leben für immer verwehrt, gilt doch der Gestrafte und Gezeichnete nach mittelalterlichem Recht für alle Zeit als recht- und ehrlos.
„In Sachsen ward durch ein solches Edikt jedermann die Erlaubnis erteilt, Zigeuner, wo immer sie sich blicken ließen, und selbst wenn sie mit Pässen versehen wären, auf der Stelle niederzuschießen. Ebenso ließ ein Kurfürst zu Mainz alle männlichen Zigeuner, deren er habhaft werden konnte, ohne weiteres hinrichten, Weiber und Kinder aber mit Ruten streichen, brandmarken und über die Grenze jagen. Noch 1724 wurden zu Berneck im Gebiet des Markgrafen von Bayreuth auf ausdrücklichen Befehl des Fürsten 17 Zigeunerinnen im Alter von 15 bis 98 Jahren, davon 15 an einem Tage, an Bäumen aufgeknüpft.“
Im 17. und 18. Jahrhundert veranstalteten fürstliche Landesherrn, Vögte und Schultheissen regelmäßig Treibjagden auf Zigeuner und anderes Fahrende Volk. Auf Glockenstürmen hin werden über Land ziehende oder in den Wäldern lagernde Zigeunerfamilien mit Hilfe der Nachbargemeinden verfolgt, verprügelt, ausgeplündert oder festgenommen. Seit 1710 findet man an Kreuzungen, Landesgrenzen und Stadttoren ‚Zigeunerstöcke‘, die bald in ganz Deutschland bis ins späte 18. Jahrhundert Verbreitung finden. „Gauner und Zigeuner Straff“ ist dort zu lesen. Damit auch des Lesens Unkundige wissen, was sie erwartet, sind ein Galgen und ein gestäupter Zigeuner aufgemalt.
„1726, den 14./15. November ist eine scharff. Execution vorgangen zu gißen, da sind 25 Zügener vom Leben zum Tod gebracht von wegen Mord und Diebstahls wegen, den 1. Tag sind 12, den 2. Tag 13,5 sind gradbrecht und 11 die Köpf abgeschlagen und 9 an den Galgen gehangen,“ trägt der Bauer Georg Seiß in sein Tagebuch ein.
Renaissance, Humanismus und Reformation also haben, wie man sieht, die Lage der Fahrenden wenig gebessert. Für sie gibt es keine „Neue Zeit“. Im Gegenteil, die sozialen und religiösen Erschütterungen des 16. Jahrhunderts, der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, Merkantilismus, 30-jähriger Krieg und feudale Mißwirtschaft führen zu einer Massenarmut, die die Zusammensetzung des Fahrenden Volkes einschneidend verändern. Mehr als zuvor wird die Landstraße zur Kehrichtgrube der Gesellschaft. Bettler, Waisen, Witwen, alte Leute, Krüppel, Arbeitslose und Kriegsinvaliden liegen auf der Straße. Der Staat beginnt mit polizeitechnischen Mitteln gegen die Armut vorzugehen. Korrektionshäuser, Zwangsarbeitsstätten, Spinnhäuser für Frauen entstehen.
Zeitgenössische Abbildungen zeigen immer wieder abgerissene, müde Gestalten, Krüppel und Blinde, die nun die Straßen Europas entlangziehen. Bedroht von Bettlerakten, Razzien, Strafen und Arbeitshäusern, von Hunden und Gendarmen gehetzt, suchen sie als Kolporteure, Hausierer, Bänkelsänger und Musikanten nichts als einen spärlichen Freiraum. Im Gewerbe der Fahrenden Leute finden sie Nischen zum Überleben. Ein Patent der Schwäbischen Kreisregierung von 1742 erfaßt das ganze Spektrum der Umherziehenden:
„Alle ausländischen Bettler und Vaganten, es seien Christen oder Juden, Deserteurs und abgedankte Soldaten, Hausierer oder solche Leute, welche zum Verkauf allerhand geringe Lumpen-Sachen, als Zahn-Stierer, Zahn-Pulver, Haarpuder, Blumensträuß, Schuhschwärze, gedruckte Lieder und dergleichen herum tragen und unter diesem Schein eigentlich betteln, hauptsächlich auch die schändlichen Lieder absingen, fahrende Schüler, Leirer, Sack- und andere Pfeiffer, Hackbretter, Riemenstecher, Glückshafener, Scholderer usw.“ (Hampe)
Immer öfter werden nun Gauner, Räuber, Fahrende und Zigeuner in einem Atem genannt. „Landstreicher, Zigeuner, boshafte Müßiggänger oder anderes herrenloses Gesindel“ und ähnlich heißt es in Kriminalakten und Erlassen des 17. und 18. Jahrhunderts. Die Volksfantasie hat darüberhinaus aus dem Leben der Umherziehenden und vor allem aus dem Treiben der Räuberbanden eine schaurige Ballade, einen grellen Moritatenbilderbogen gemacht. Aber die Wahrheit ist weit prosaischer. Die Umherziehenden sind keine gefederten und gespornten Räuberhauptmänner, Zigeunerfürsten und buntscheckigen Gaukler, sondern arme Leute. Aus den armen Dörfern Hessens und der Pfalz, vom Hunsrück, Winterhauch und Vogelsberg machen sich jedes Frühjahr Tausende ‚auf die Socken‘, um als Krämer und Musikanten ihr Leben zu fristen. 1709 versuchen 15.000 Pfälzer nach Amerika auszuwandern. Nur 2000 kommen lebend an. In Kursachsen, das sich mit Zigeunergesetzen immer hervorgetan hat, verhungern in den Hungerjahren 1772/73 150.000 Menschen. Vor diesem Hintergrund muß man die Räuberbanden des 18. Jahrhunderts und die rücksichtslose Verfolgung all derer, die auf der Straße liegen, sehen.
In der Bande des Schinderhannes bilden Männer aus den armen Dörfern des Hunsrück, die als Musikanten und Krämer zu überleben versucht haben, das größte Kontingent. In seiner ‚Actenmäßigen Geschichte der Vogelsberger und Wetterauer Räuberbanden‘ hat 1813 der Kriminalist von Grolmann die Lebensgeschichten der als Räuber verurteilten und hingerichteten Vagabunden nachgezeichnet. Die meisten von ihnen haben sich als Musiker und Krämer durchzuschlagen versucht und Vorurteile und Grausamkeit der Seßhaften mehr als genug zu spüren bekommen, bevor sie sich an deren Eigentum vergriffen.
Peter Görzel (Scheeler oder Heiden-Peter)
Der Vater, ein Musikant, überläßt das Kind seinem Schicksal, die Mutter ist früh gestorben. Der Stiefbruder, der sich des kleinen Peter annimmt, läßt ihn am Straßenrand zurück, als er eine Arbeitsstelle in Aussicht hat. Zwei Zigeunerfrauen nehmen sich des Kindes an und erziehen ihn als Zigeuner, daher der Name Heiden-Peter. Der Junge gerät daher in Konflikt, ob er „Zigeuner noch Teutscher sey“. Als Vagant zieht er nach dem Tod seiner Mutter umher. Verschiedene Ausbruchversuche aus der „Eisenstrafe“ gelingen dank seiner körperlichen Gewandtheit. Mit seiner Freundin, dem „Heiden-Cathrinchen“ und seinen drei Kindern verbindet ihn ein herzliches Verhältnis. Trotz aller vergeblichen Versuche, mit gefälschten Papieren usw. seiner Familie eine sichere Bleibe zu verschaffen, geht er den vorgezeichneten Weg, der auf dem Richtplatz endet.
Sein Vater, der Pohlengänger, ist als Bettler unter freiem Himmel gestorben, die Mutter schlägt sich mit den Kindern alleine durch, Gefängnis und Landesverweisung bestimmen ihren Weg. Michel ergreift typische Vagantenberufe, er wird Musikant und Korbflechter, er hat für seine Frau und zwei Kinder zu sorgen. Zusammen mit seinem 10 Jahre jüngeren Bruder Hannes wird er 34jährig im Jahre 1812 vor Gericht gestellt, er kommt mit 20 Jahren Zuchthaus davon, der Bruder wird hingerichtet. Ob er die Zuchthausstrafe unter den damaligen Verhältnissen überlebt hat, ist fraglich.
Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ändert sich die Politik der staatlichen Institutionen gegenüber dem Fahrenden Volk. Hat man bisher Räuber, Zigeuner, Bettler und Vagabunden in einen Topf geworfen, entwickeln nun die Behörden eine differenziertere Haltung. Die umherschweifenden Räuberbanden sind zerschlagen, ihr geheimes Netz ist zerrissen. Während das Leben der Fahrenden und vor allem das der Räuber in einer Art wehmütiger Rückerinnerung kolportiert und romantisiert wird, tippelt schon das Fahrende Volk der heraufziehenden Industriegesellschaft — Saisonarbeiter, Arbeitslose, verarmte Bauern und andere Krisenopfer – über Deutschlands Straßen. Die modernen Zeiten beginnen. Nach der Gründerkrise ziehen 200.000 bettelnd und hausierend durch Dörfer und Städte. Man wird sie kaum mit den Räuberbanden des 18. Jahrhunderts verwechselt haben, denn das neue Gespenst des Bürgertums heißt nicht Schinderhannes oder Hölzerlips sondern Sozialdemokratie. Liberales Bürgertum und Kirche plädieren aus humanitären und politischen Gründen für eine sozialreformerische
Armenpolitik. Wichern gründet 1848 die ‚Innere Mission‘, 1854 entstehen die ersten ‚Herbergen zur Heimat‘, 1869 das erste Obdachlosenasyl in Berlin und 1882 kann Bodelschwingh die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf in Bethel einweihen. Asyle, Herbergen, Verpflegungsstationen, Wanderarbeitsstätten und Kolonien arbeiten Hand in Hand mit einem landeseinheitlich und zentral organisierten modernen Polizeiwesen. Die Zeiten des feudalen Partikularismus, die ja den Umherziehenden eine Fülle von Lücken ließen, gehen dem Ende zu. Paßwesen und Meldepflicht, Wandergewerbeschein und Wanderbuch, Gesetze gegen Bettelei und Landstreicherei, ein abgestuftes System von Bewährungsproben mit den Endstationen Zuchthaus und Irrenanstalt–das Netz der staatlichen Kontrolle und Überwachung wird immer enger geknüpft. Das ‚unordentliche‘ Leben der Fahrenden wird überschaubar; die Wanderwege sind kontrolliert oder gar staatlich festgelegt. Die Arbeitswilligen können von den Arbeitsscheuen getrennt werden. Wer sich nicht bewährt oder sich gar der staatlichen und kirchlichen Wohlfahrt
gegenüber als renitent erweist, gilt endgültig als asozial, gemieden auch von denen, die selbst einmal zu den Armen zählten und als Fabrikarbeiter oder Kleinhändler zu bescheidenem Wohlstand gekommen sind. Die Asozialen werden die ‚atsingani‘, die Unberührbaren des 20. Jahrhunderts.
Den nationalsozialistischen Asozialen-, Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetzen fallen mehr als 500 000 Zigeuner und zahllose Bettler, Hausierer und Wanderarme zum Opfer. Der Staat organisiert die Bettelei lieber zentral: Winterhilfe, Volksanleihen, Spenden- und Hilfsaktionen Tag für Tag. Obwohl die nationalsozialistische Ideologie den seßhaften, an die Scholle gebundenen Bauern zur verpflichtenden Lebensform erheben möchte, sind am Ende des Krieges mehr Menschen heimatlos, aus ihren familiären, sozialen und regionalen Zusammenhängen gerissen als je zuvor. Was Victor Klemperer über die Judenverfolgung schreibt, trifft ebenso für die Zigeunerpolitik des Nationalsozialismus zu. Entrechtung und Verfolgung kommt nicht als mittelalterliche Raserei oder spontaner Massenmord, sondern in höchster Modernität, in „organisatorischer und technischer Vollendung“, einher. Die Nationalsozialisten finden bereits 1933 einen Polizeiapparat vor, auf den die Gesetze gegen das ‚Landstreicher- und Zigeunerunwesen‘ seit dem 19. Jahrhundert hingearbeitet haben. Auf der Münchener Konferenz vom Dezember 1913 wird ein reichseinheitliches Vorgehen gegen Zigeuner und der Aufbau einer Zentralkartei mit Fingerabdrücken, Fotos, Wanderrouten und Sippenregistern der durch Deutschland ziehenden Zigeunerfamilien beschlossen. Himmlers Zigeunerpolitik kann sich der Zentralkartei bedienen, perfektioniert sie und fügt ihr einen Aspekt hinzu, den die Verfolgung und Verfemung der Außenseiter im Mittelalter — abgesehen von der technischen Perfektion — noch nicht gekannt hat: den der Genealogie.
Robert Ritters ‚Rassehygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle‘ sammelt systematisch Stammbäume von Zigeunern und Jenischen, um die ‚erbliche Konstanz sozial schädlichen Verhaltens‘ zu untersuchen. Er und seine Mitarbeiterin Eva Justin bedienen sich für ihre Forschung der Möglichkeiten des nationalsozialistischen Polizeistaates und liefern ihm die wissenschaftliche Legitimation zur Sterilisation der ‚artfremd erzogenen, sozial mangelhaft angepaßten Mischlinge‘. Erst der amerikanische Fernsehfilm ‚Holocaust‘, der Protestmarsch der Sinti nach Dachau 1979 und ihre politische Selbstorganisation haben die Bevölkerung mit dem Schicksal der Zigeuner während des ‚Dritten Reiches‘, der verschleppten Wiedergutmachung nach 1945 und dem Kampf der Sinti ums Überleben heute bekannt gemacht.
Wenn bisher kaum von Zirkus und Rummelplatz die Rede war, so deshalb, weil die Vorurteile gegenüber den Fahrenden und ihre soziale und rechtliche Deklassierung weit älter sind als Schaustellergewerbe und Manege. Der Zirkus hat seine eigentliche Blütezeit im 19. Jahrhundert und der Rummel hat weit mehr mit der modernen Massenunterhaltung in den Metropolen zu tun als mit Jahrmärkten und Kirchweihfesten des Mittelalters.
Zwar machen die in Jahrhunderten entwickelten Vorurteile gegenüber dem Fahrenden Volk vor Zirkusleuten und Schaustellern nicht halt, aber andererseits tragen die ‚großen Formen‘ des Volksvergnügens entscheidend zur Emanzipation der fahrenden Artisten, Komödianten und Fieranten bei. Aber die Emanzipation hat auch einen großen Haken, ähnlich dem Aufstieg des mittelalterlichen Spielmanns zum Stadtpfeifer. Als er Amt und Ehren von den Seßhaften übernahm, übernahm er auch deren Vorurteile gegenüber seinen ehemaligen Brüdern.
„Nichts zu tun hatten die fahrenden Leute mit den Zigeunern, im Gegenteil, sie kamen nicht mit ihnen in Berührung. Auch der Staat sah bald ein, daß das Wandergewerbe — Handel wie Schausteller–ein ehrlich strebender Stand war.
Die Behörden waren sich darüber klar, daß das Wandergewerbe eine gute Steuereinnahmequelle sei.“ (A. Lehmann)
Auch das Fahrende Volk hat seine Parias und der soziale Aufstieg weniger fördert die soziale Hierarchie unter den Fahrenden. Während Renz seine Triumphe feiert, bedeutet die Einführung der allgemeinen Schulpflicht für manchen kleinen Familien-Wanderzirkus den Ruin. Zudem entdeckt Ende des 19. Jahrhunderts die Industrie die Massenunterhaltung. Betriebe, die kaum etwas mit dem Fahrenden Volk verbindet, spezialisieren sich auf die industrielle Produktion von Rummelplatzinventar und manch müde Bänkelsängerfamilie legte sich lieber ein Karussell oder eine Schießbude zu, als weiter ihr altes Gewerbe auszuüben.
Die zunehmende Industrialisierung und Elektrifizierung des Rummelplatzes sowie die auf die Spitze getriebene Perfektion des modernen Zirkus haben für die bescheidenen Kunststückchen der Fahrenden Leute vergangener Jahrhunderte eine große Sympathie entstehen lassen. Unwiederbringlich zur guten alten Zeit gezählt, haben wir unseren Frieden gemacht mit dem Fahrenden Volk. Jahrmarktsrequisiten, Drehorgeln und Bänkelsängertafeln gehören zu den gesuchten Trophäen aus der Subkultur der guten alten Zeit. Zigeunern, Zirkusleuten, Schaustellern und Bänkelsängern ist der Zutritt zu den heiligen Stätten der hohen Kunst nicht länger verwehrt.
Aber weiter draußen, in den Vorstädten, in den Asylen und Ghettos, auf Campingplätzen und Stellplätzen für Landfahrer geht es profaner zu.
Ruhrgebiet 1980: „Allen Landfahrern, allen Schaustellern und allen Personengruppen, die von Haus zu Haus Waren anbieten, verkaufen oder reparieren, ist der Zutritt zu diesem Campingplatz verboten!“
Es gibt ihn noch, den Alltag von Verfolgten und Verfolgern .
Klaus Trappmann
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Benutzte Literatur:
Bose, G. u. Brinkmann, E., Circus, Berlin 1978
Danckert, W., Unehrliche Leute, Bern 1963
Geigges, A. u. Wette, B., Zigeuner heute, München 1979
Hampe, Th., Die fahrenden Leute, Leipzig 1902
Hock, A., Recht auch für Zigeuner, Berlin 1976
Kopecny, A., Fahrende und Vagabunden, Berlin 1980
Lehmann, A., Zwischen Schaubuden und Karussells, Frankfurt 1952
Pätzold, L, Bänkelsang, Stuttgart 1974