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Räuber- und Gaunerbanden in Hessen

Ein Beitrag zum Versuch einer historischen Kriminologie Hessens
Von Hermann Bettenhäuser

Quelle: ZVHessG 75/76, 1964/65, S. 275-348

In den folgenden Ausführungen soll der Versuch unternommen werden, einen Ausschnitt aus der Welt der älteren Berufskriminalität in Hessen darzustellen. Dabei geht es uns um die bandenmäßig auftretende Raub- und Diebstahlskriminalität in ihrer für die Zeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts typischen Form. Es geht um das historische Bild des Berufsverbrechers.


I.

Die Berufskriminalität in Hessen kann auch als historische Erscheinung nicht für sich allein betrachtet werden. Sie ist nur der lokale Niederschlag allgemeiner Zeiterscheinungen. Darum sind einige Vorbemerkungen allgemeiner Art erforderlich.

  1. “Berufsverbrecher” ist keineswegs schon der, der wiederholt in derselben Richtung straffällig geworden ist. In der juristischen Definition bezeichnet man als Berufsverbrecher den, der aus einem eingewurzelten, angeborenen oder erworbenen Hang seinen Lebensunterhalt ganz oder zu einem wesentlichen Teil durch die Begehung von Verbrechen zu erwerben pflegt, der also das Verbrechen zu seinem Beruf im eigentlichen Wortsinn gemacht hat

Daher liegt schon im Begriff des Berufsverbrechers selbst die Beschränkung auf den hangmäßigen, unverbesserlichen Verletzers fremden Eigentums und fremden Vermögens. Der Raufbold wie der hangmäßige Sexualverbrecher sind aus dem Begriff auszuklammern. Kennzeichen des Berufsverbrechers ist seine anti- und asoziale Einstellung.

  1. Wir haben im Berufsverbrecher ein komplexes Phänomen vor uns, das mit den Schlagworten “antisozial” oder „asozial” noch keineswegs hinreichend erklärt ist. Die Kriminologie, d. i. jener Seitenzweig der Strafrechtswissenschaft, der sich die Erforschung der Entstehungs- und Daseinsbedingungen des Verbrechertums zum Ziel gesetzt hat, um daraus Erkenntnisse sowohl für
    die repressive Bekämpfung der Kriminalität wie für ihre Prophylaxe zu gewinnen, pflegt das Problem von drei Seiten anzugehen. Die Kriminologie unterteilt sich selbst in die Kriminal-Biologie oder Kriminal-Anthropologie, die die körperlichen, die somatisch-physiologischen Voraussetzungen des Verbrechertums erforscht, in die Kriminal-Psychologie, die in seine psychologischen Voraussetzungen einzudringen versucht, und in die Kriminal-Soziologie, die das Verbrechen als Vorgang im menschlichen Gemeinschaftsleben, als mitmenschliches, soziales Geschehen begreift. Erst die Ergebnisse dieser drei Forschungszweige zusammen erschöpfen den Gesamtvorgang „Verbrechen”.

Mezger hat das in eine Art mathematische Formel gebracht: “Verbrechen = Produkt aus anlage- und entwicklungsbedingter Persönlichkeit des Täters und seiner persönlichkeitsgestaltenden und tatgestaltenden Umwelt”, wobei je nach Tätertype der Akzent mehr auf dem einen oder anderen Faktor liegt.

  1. Angesichts dieser Problemstellung muss sofort die Frage auftauchen, wie denn eine historische Kriminologie überhaupt möglich sei und welche Aufgaben sie haben könne. In der Tat scheint auf historischer Grundlage keine gesicherte und exakte Erkenntnismöglichkeit gegeben, soweit es sich um kriminalbiologische Elemente handelt. Vor allem fehlt uns das wesentliche Untersuchungsobjekt, nämlich der lebende Mensch. Es gibt im übrigen keine historische Quelle, die über die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinaus nach rückwärts Material für eine naturwissenschaftlich exakte Beobachtung böte. Die den alten Gaunerlisten vom Ende des 18. und vom Beginn des 19. Jahrhunderts gelegentlich beigegebenen Abbildungen “prominenter” Gauner erwecken nicht selten das Gefühl, hier habe mehr die moralische Entrüstung dem Zeichner den Stift geführt als das Streben nach Porträtähnlichkeit oder nach Fixierung anthropologisch wesentlicher Merkmale. Auch
    die ersten Ansätze, die Abstammung berufsmäßiger Verbrecher und Asozialer und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu klären, wie sie in Hessen 1828 durch PFEIFFERS Stammtafeln hessischer Gaunerfamilien gemacht werden, dienen nicht der Zeit ohnehin noch fernliegenden erbbiologischen Forschungszwecken, sondern sollen durch Aufhellung verwandtschaftlicher und schwägerschaftlicher Querverbindungen die polizeiliche Kontrolle notorisch asozialer Elemente verbessern. Diesen Zweck hat auch die briefliche Anregung der
    Oberpolizei-Direktion Kassel vom Jahre 1826 zur Anlegung solcher Stammtafeln aus Anlass des Auftauchens verdächtiger Elemente in der Wetterau im Auge”. Ob die Auswertung dieser und ähnlicher Stammbaume von Verbrecherfamilien mehr als Hypothesen zu liefern imstande ist, bleibt, wie BADER mit Recht meint, sehr fraglich. Sicher werden alle so gewonnenen Ergebnisse “dürr und unlebendig” bleiben.

Nicht viel besser steht es mit der Kriminalpsychologie. Auch hier fehlt das wesentliche Objekt der Untersuchung, der lebende Mensch.
lm älteren deutschen Strafrecht galt der Satz: “Die Tat tötet den Mann”, d. h. entscheidend war der äußere Hergang des objektiven Geschehens, um die subjektiven Vorgänge im inneren des Täters machte man sich nicht viel Gedanken. Nur zögernd dringt in beschränktem Umfang im späteren Mittelalter die Berücksichtigung subjektiver Elemente des Tatgeschehens durch. Dementsprechend ist in den Quellen auf eine Herausstellung der subjektiven Tatelemente und eine eingehende Berücksichtigung der Täterpersonlichkeit nur geringer Wert gelegt.
Nach Quellen vom Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts enthalten selten mehr als Bekundungen sittiger Empörung oder summarische Beurteilungen wie “ein unverschämter Erzgauner”, mit denen psychologisch nicht viel anzufangen ist. MEZGER nennt einen bestimmten Typ von arbeitsscheuen, parasitären Asozialen den “primitiv-formlosen Verbrecher” und charakterisiert ihn folgendermaßen: ” … Mangel an Liebe zur Sache und zur Person, eine gewisse Agilität ohne zielgerichtete Aktivität, Scheu vor geregelter Arbeit geben der Lebensführung etwas primitiv Nomadenhaftes … die Kriminalität ist meist polytrop. Je nach dem augenblicklichen Reiz kommt es zu Eigentums-, Gewalttätigkeits- oder SittIichkeitsdelikten.” MEZGER sieht in diesem Typ “Willenlosigkeit, Rohheit und Primitivität … Formlosigkeit, das fremdartig Raubtierhafte, besonders bei Iebhaftem Temperament, den Wechsel der Faulheit und Beweglichkeit einer Katze
mit ihrer Tücke ohne die ausgeglichene Eleganz ihrer Bewegungen.”

Soweit die Akten der Zeit um 1800 Lebensläufe der Beschuldigten enthalten, fühIt man sich nicht selten an diese Charakterisierung erinnert, wenn auch eine exakte Nachprüfung angesichts des knappen Materials nicht möglich ist. Auch MEZGER weist in diesem Zusammenhang auf das vagierende Gaunertum früherer Jahrhunderte hin. Jedoch bleiben diese an modernem Beobachtungsmaterial gewonnenen Erkenntnisse auf vergangene Zeiten zurückbezogen ein Querschnittsurteil, das über die konkrete Persönlichkeit des einzelnen Gauners vergangener Jahrhunderte nichts sagt. Im Übrigen finden sich unter den Gaunern nicht nur vereinzelt auch solche, die wahrscheinlich ganz anderen Typen zuzuordnen waren, wie etwa SCHILLERS “Verbrecher aus verlorener Ehre”, ein großes psychologisches Einfühlungsvermögen verratendes
literarisches Portrait des berüchtigten schwäbischen Räubers Sonnenwirtle, zeigt. Ein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allmählich erwachendes Interesse an der psychologischen Seite des Verbrechens hat sich zunächst einzelnen aufsehenerregenden Kapitalverbrechen zugewandt, wie sie etwa PITAVAL und nach ihm ANSELM v. FEUERBACH in seiner “Aktenmäßigen Darstellung merkwürdiger Verbrechen” geschildert hat. Für die uns hier gerade interessierende typische Kriminalität einer Zeit bleiben solche Darstellungen im großen und ganzen unergiebig.

BADER ist u. E. zuzustimmen, wenn er davor warnt, an die dürren, psychologisch auswertbaren Mitteilungen historischer Akten mit den aus einem modernen Weltbild gewonnenen psychologischen Vorstellungen und Begriffen heranzugehen. Zwar ist anzunehmen, daß der Mensch, soweit es seine Anlagen betrifft, sich in historischer Zeit nicht entscheidend verändert hat.
Was wir jedoch heute nicht wiederherstellen können, ist jener wesentliche, die Denk- und Handlungsweise beeinflussende Faktor, den MEZGER, wie oben erwähnt, den Teil der Persönlichkeit nennt, der nicht anlage-, sondern entwicklungsbeeinflußt ist und vor allem weiter die Umwelteinflüsse, die die besondere Gestaltung seiner Tat beeinflussen. Von dem Menschen von heute führt zur Welt etwa der Hexenverfolgungen oder der Freude an blutigen und grausamen öffentlichen Hinrichtungen keine Brücke psychologischer Einfühlung. Was von uns heutigen in dieser Hinsicht versucht wird, bleibt “ein vielleicht geistreicher und interessanter, aber wissenschaftlich unfruchtbarer historischer Psychologismus” (BAOER aaO.) nach der Art eines Emil Ludwig oder Stefan Zweig. Wer etwa in heutiger Zeit erfahren hat, wie
schnell schon innerhalb von ein bis zwei Generationen bestimmte gesellschaftliche Bräuche, zu ihrer Zeit von höchster verpflichtender Kraft, mit den Gesellschaftsschichten, die sie getragen haben und für die sie verbindlich gewesen sind, so völlig verschwunden sind, dass sie einem Jugendlichten der Nachkriegsgeneration kaum auch nur verstehbar zu machen sind, wird BADER in seiner Einschätzung der Möglichkeiten einer historisch begründeten Kriminalpsychologie recht geben.

Es bleibt die Kriminalsoziologie. Hier liegt wohl in der Tat die einzige aussichtsreiche Möglichkeit historischer Forschung und Betrachtung.
Aber auch hier besteht ein erhebliches Hemmnis insofern, als es einigermaßen verwertbare Kriminalstatistiken erst seit den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts gibt. Immerhin scheint es auf diesem Gebiet möglich, zu gewissen Ergebnissen zu kommen. BADER bezeichnet als Ziele einer historisch orientierten Kriminologie:

  1. Klärung der Frage, ob die großen Wandlungen in der Sozialgeschichte in nachprüfbarer Weise das Gesamtbild der Kriminalität beeinflusst
    haben,
  2. Klärung, wie sich Verbrecher und Verbrechen mit ihrer Zeit wandeln,
  3. wie es zu Tat- und Tätertypen kommt,
  4. mit welchen – auch nicht strafrechtlichen – Mitteln (siehe in Hessen etwa die Gründung der Invaliden-, Waisen-, Accouchier- und Findelhäuser und ähnl.) man der Kriminalität Herr zu werden sucht (und wie sich dies auf die Entwicklung der Kriminalität ausgewirkt hat.)

Im Einzelnen wird auf lokaler Ebene dann noch zu untersuchen sein, wie etwa Kriegsläufe oder wirtschaftliche Krisen des Landes oder einzelner Gewerbezweige Wellenbewegungen der Kriminalität verursacht haben.
In Hessen bleibt auf diesem Gebiet noch alles zu tun. Auch diese Arbeit kann sich zunächst nur das Ziel nehmen, durch eine sicherlich nicht erschöpfende, vorläufige Bestandsübersicht der Diebstahlskriminalität einen Anfang zu setzen. Eine Vollendung der Aufgabe wird ohne Auswertung auch außerhessischer Quellen, insbesondere der Bestände auch nichthessischer Archive nicht möglich sein.

Die Beschränkung der historischen Forschung auf die soziologische Seite des Phänomens darf jedoch nicht als eine Art Exculpation des historischen Gaunertums missverstanden werden. Die Einschränkung ist durch die Quellenlage erzwungen und deshalb keine Unterstützung von verbreiteten Lehrmeinungen, die den Begriff individueller Schuld durch Soziologie (oder, je nach Standpunkt, durch Psychologie) ersetzen möchten.


II

Nunmehr ist das Feld unserer Untersuchung gegenständlich und zeitlich näher zu umgrenzen. Dabei kann soziologisch von der Tatsache ausgegangen werden, dass das, was wir als älteres Berufsverbrechertum bezeichnen, von einer bestimmten, einheitlichen, sozialen Schicht mit deutlichen, eigenartigen Kennzeichen getragen wird. Es ist also zunächst auszuführen, wie und aus welchen Elementen sich diese Schicht gebildet hat.

Unsere Definition des Berufsverbrechers ermöglicht es, eine begriffliche Grenze zu ziehen gegenüber einer Reihe von historischen Erscheinungen, die äußerlich manches mit dem Treiben eines Berufsverbrechertums gemeinsam zu haben scheinen, sich aber doch dem strengen Begriff nach von ihm unterscheiden.

Gemeint sind hier einmal planmäßige Verletzungen zivilen Eigentums-Plündern und gewaltsames Beitreiben von Kontributionen im Zuge militärischer Aktionen (“der Krieg muss den Krieg ernähren”). bei denen ungeachtet aller Unmenschlichkeit und wirtschaftlichen Kurzsichtigkeit des Verfahrens ein immerhin vorhandener, rational begründbarer militärischer Zweck eine Scheide zur asozialen Welt des Berufsverbrechertums bildet. Vor allem ist aus dem Kreis unserer Betrachtungen auszunehmen das mittelalterliche Fehdewesen und seine Auswirkungen – das, was man in einem verallgemeinernden Sinne “Raubrittertum” nennt. Diese in ihrer Bedeutung gegenüber den positiven Seiten des Rittertums nicht selten übertriebene Erscheinung ist ursprünglich keineswegs Gewalt und Unrecht, sondern – ungeachtet aller Bestrebungen von Königen, Territorialherren und Städten, das Fehdewesen einzuschränken – ein wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Rechtsordnung, der in der germanischen Vorstellung vom Selbsthilferecht des freien Mannes wurzelt und in dem auch die germanische Vorstellung von der Ehrenhaftigkeit offenen, gewaltsamen Raubes nachklingt. “Schon im Hinblick auf die hohe Bedeutung, die dem Rittertum in kultureller, politischer und sozialer Beziehung eignet, ist es ganz undenkbar, in der Fehde nur gewalttätiges Unrecht zu erblicken”

Die begriffliche Scheidung darf freilich nicht den Blick dafür verstellen, dass in praxi die Grenzen zum Verbrechertum oft fließend gewesen sind.

Dem fehdelustigen Ritter hat sich häufig kriminelles Gesindel angehängt und vollends in der Spätzeit eines seiner Aufgaben und seines Sinnes beraubten Rittertums gerat der Ritter selbst nicht selten in eine bedenkliche Nahe zum Kriminellen, wird die Fehde zum ” reinen Erwerbsgeschäft. Mancher bewahrt sich auch dassei noch einen Rest ritterlicher Gesinnung, der ihn noch vom Kriminellen zu unterscheiden vermag. Eine Erscheinung etwa, wie der raub-, und fehdelustige Mangold v. Eberstein auf Burg Brandenstein bei Schlüchtern wirkt wie ein hessisches Gegenstück des bei aller Gewalttätigkeit treuherzig-biederen” Götz von Berlichingen. Aber es gibt natürlich genug Hilfe, wo die Grenze nach der Seite des Kriminellen hin eindeutig überschritten ist. Einen beispielhaften Vorgang dieser Art kennt die hessische Kriminalgeschichte aus dem Jahre 1569, einen Fall, der zugleich zeigt, wie ein ursprünglich politisches Unternehmen dadurch, dass es die gesetzten Ordnungen verlässt, schließlich auf die Ebene des rein Kriminellen hinabsinkt.

1569 werden die Wetterau und die Umgegend von Gießen durch eine Reiterschar beunruhigt, die sich, an 100 Pferde stark, in der Gegend aufhält und die Landstraßen unsicher macht. Die Akten nennen eine Anzahl Namen: Anton van Pflugk, der der Anführer zu sein scheint, Ernst van Mandelsloh, Joachim, Jorge und Dietrich von Pircht, ein Wolffsdorff, zwei von Waldenfels, ein von Carlowitz, zwei von Zedtwitz, ein von Schomberg, zwei Schelm von Bergen, alle nichthessischer Herkunft, dazu eine Schar reisiger Knechte und arbeitsloser Söldner. Es sind ehemalige Genossen des fränkischen Ritters Wilhelm von Grumbach, Teilnehmer der sogenannten “Grumbachschen Händel”. Sie sind Wilhelm von Grumbach in seinem Streit mit dem Würzburger Bischof MeIchior ZobeI von GiebeIstadt zugezogen, haben an dem Überfall und der Plünderung Würzburgs 1563 durch Wilhelm von Grumbach teilgenommen und haben ihn weiter unterstützt bei seinem Versuch, das, was aIs eine Lehensstreitigkeit begonnen hatte, in einer verspäteten Nachfolge Franz von Sickingens zu einem Kampf um die Unabhängigkeit des Rittertums auszuweiten.

Nach dem mit der Hinrichtung Wilhelms von Grumbach in Gotha 1567 besiegelten Zusammenbruch des Unternehmens sind sie zwar zunächst der Katastrophe entronnen, aber Reichsachter, vogelfrei, friedlos und zu Straßenräubern geworden. (Drei von ihnen, Ernst von Mandelsloh, Dietrich Pircht und Anton von Pflugk, beherbergt und mit ihnen Freundschaft gehalten zu haben, gehört zu den Anklagen, die zum Sturz des jungen Grafen Christoph Ernst von Diez auf Schloss Ulrichstein im Vogelsberg, des Sohnes der Margarete von der Saale, geführt haben.)

Bezeichnend ist, dass sie ihre HauptschIupfwinkeI auf der Reichsburg Friedberg haben, auf der Burg in Staden, Kr. Büdingen, (zu deren Ganerben die Friedberger Ganerbschaft gehört), auf der Ganerbenburg Lindheim, Kr. Büdingen, und in Reiffenberg. Alle diese kleinen kollektiven Herrschaften sind meist weder in der Lage noch gewillt, eine ordentliche Verwaltung ihres Territoriums zu begründen und aufrechtzuerhalten; sie bilden durch ihre Gerichtsautonomie zumal dann, wenn sie, wie die Friedberger, zugleich reichsunmittelbar sind, Fremdkörper innerhalb der umliegenden Gebiete größerer Landesherren, deren Bestrebungen, eine straffe und geordnete Staatsverwaltung aufzubauen, sie schon durch ihre bloße Existenz stören. Sie sind die gegebenen Stützpunkte eines “unordentlichen und anarchischen Reiterwesens” ( L. v. RANKE), und sie sollen sich noch bis zum Ende des alten Reichs wegen ihrer kriminalpolitischen Leistungsschwäche als Rückhalt eines fluktuierenden Berufsverbrechertums erweisen. Im Zusammenhang mit dem Auftreten der Bande des Anton von Pflugk müssen die Landgrafen in Kassel und Marburg am 15. 12. 1570 ein kaiserliches Mandat Maximilians 11. erwirken, dass sie ermächtigt, auch auf reichsunmittelbarem Gebiet gegen die Räuber vorzugehen, da auch energische Mahnungen der Landgrafen an die Ganerben zu Friedberg, Staden, Lindheim und Reiffenberg, schärfer gegen die Räuber vorzugehen und sie nicht mehr zu dulden und zu herbergen, nichts gefruchtet haben.

Am 20. oder 21. 9. 1569 werden jüdische Kaufleute aus Wetzlar, die mit einem Zug Frachtwagen auf dem Heimweg vcn der Frankfurter Messe sind, bei Rechtebach zwischen Gießen und Wetzlar von einem Reitertrupp, der zu dem Pflugkschen Haufen gehört, überfallen, misshandelt und ausgeplündert. Die Beute (Lundisch Tuch, Tuch von Arras, Seidenstoffe, Korduanisch Leder, Ingwer und anderes) ist beträchtlich, ihr Wert betragt rund 1300 Gulden. Da die Überfallenen einen hessischen Geleitsmann (“Peter Klotz, des Rentmeisters in Gießen Junge”) gehabt haben und der Überfall sich auf hessischem Boden ereignet hat, muß Landgraf Ludwig von Hessen-Marburg in den Beutel greifen und die Überfallenen entschädigen. Den Überfallenen ist unter den Raubern vor allem einer aufgefallen, „der sich vor den anderen dapffer gedummelt”, “ein wohlbehaltener Mann mit dickem Bauche”, er habe “einen roten Bart gehapt, so in ein Schnauptuch eingebunden”, er habe „ein rehfarben Pölzhutt mit langen weißen Haaren auffgehabt” und eine Narbe an der rechten Wange getragen. Die Personenbeschreibung lenkt den Verdacht auf Martin Preuß, jetzt Dienstmann der Friedberger Ganerben und als solcher in Verbindung mit dem Pflugkschen Haufen stehend, einen anscheinend nicht unbegüterten Mann, der vierzehn Jahre lang Schultheiß zu Staden gewesen ist. Martin Preuß entzieht sich zunächst der Verfolgung, er verkauft die Güter seiner Ehefrau im Hessischen und taucht unter. Einige Zeit darauf wird er bei einem Straßenraub im kurpfälzischen Gebiet erwischt. Bei seinem Verhör am 17. 5. 1571 in Alzey auf den Rechtebacher Raub angesprochen, erzählt er folgende Geschichte: Es seien eines Tages zwei Juden zu ihm gekommen, „die er nit zu nennen wisse”, die hatten ihm angezeigt, dass demnächst andere Juden aus Wetzlar von der Frankfurter Messe heimkehren würden. Diese Wetzlarer hatten sie, die Besucher, um viele Güter gebracht, er solle helfen, dass sie möchten niedergeworfen werden. Er habe das zunächst abgelehnt, aber „uff der juden vleyssig pitten (habe) er ihnen dis ihr begeren bewilliget”. Die Geschichte hat Martin Preuß, der, wie sich in Alzey ergibt, noch eine ganze Anzahl weiterer Räubereien auf dem Kerbholz gehabt hat, nicht vor dem Galgen gerettet, zumal – fast selbstverständlich – die geheimnisvollen jüdischen Anstifter trotz allen Nachforschens nicht aufzufinden gewesen sind. Die Geschichte ist aber deshalb nicht ohne Interesse, weil sie – wenn man sie nicht von vornherein als bloße Schutzbehauptung werten will – auf den ersten Blick eine Grenze, in diesem Falle allerdings eine nur haarfeine Grenze zu zeigen scheint, die Martin Preuß und seine Genossen noch vom Kriminellen trennt: man scheut sich noch, sich in zynischer Offenheit als Feind der bürgerlichen Ordnung zu bekennen. Wenn schon Raub und Überfall dann muss es jedenfalls den Anstrich einer Art gerechter Fehde haben, der Wiedergutmachung von Unrecht und des Schutzes Hilfsbedürftiger, wenn man auch die solennen Formen einer Fehdeerklärung längst nicht mehr einhält.

Erfährt man aber, wie Martin Preuß und seine ritterlichen Spießgesellen sich sonst betragen haben, so zerflattert dieser Schein schnell. Auf die Nachricht von der Verhaftung des Martin Preuß meldet sich bei der Behörde “Johann Koch, gewesener württh zu Staden, und zeygt an, zu was verderblichem Schaden er sambt Weib und Kindern durch Martin Preußen, gewesenen Schultheißen daselbst, geführet worden.” Eines Tages sei Martin Preuß, Anton von Pflugk, ein von Carlowitz und andere von Adel mit Knechten, an 30 Pferde stark, in seiner Wirtschaft erschienen und Martin Preuß habe die Genossen aufgefordert, „weidlich zu saufen und zu fressen, dann der württh kündte solches wol bezahlen”. Sie seien über zwei Wochen bei ihm gewesen, hatten sich nur vom Besten auftischen lassen, allein für ihre Bedürfnisse habe er zwei Metzger, einen Fischer und einen Vogelfänger beschäftigen müssen. Sie hatten sich in seiner Wirtschaft übel aufgeführt, so „zu etlichen malen saIva venia ihre pudenda entblößet und das Wasser in die Stube gelassen. Daneben Ine gefraget, wie Ime solches gefalle. Und nachdem er geantwortet, man sehe wol, was es für Vogel weren”, habe ihm einer ein Glas an den Kopf geworfen, Martin Preuß habe ihm einen Knebelspieß durch den rechten Arm gestochen und einer der Genossen habe seiner, des Wirtes Frau, die damals schwanger gewesen, einen Teller mit heißer Suppe ins Gesicht geschüttet. Nachdem sie für über 500 Rthlr. bei ihm vertan, hatten sie ihn noch aus dem Fenster geworfen, so dass er einen Beinbruch davongetragen habe, und seien dann hohnlachend, ohne zu bezahlen, davongeritten. Von ritterlicher Sitte ist hier auch bei wohlwollender Beurteilung nicht mehr viel zu merken.

2. Beim Landsknecht oder Soldat sieht die Praxis nicht anders aus als beim Ritter. Die besondere Bedeutung, die dem beschäftigungslosen Landsknecht im Rahmen der bandenmäßigen Eigentumskriminalität zukommt, zeigt eine Bestimmung der constitutio criminalis Philippina von 1535. Einer der Hauptvorzüge dieses Gesetzes und für die damalige Zeit ein wirklicher Fortschritt ist es, dass die Gesetzgebung Philipps des Großmütigen die von dem Bamberger Hofkanzler Johann Freiherrn von Schwarzenberg und Hohenlandsberg entwickelte und in der constitutio criminalis Bambergensis von 1507 erstmals Gesetz gewordene Lehre von den sogenannten „Inzichten”, das sind die Beweisanzeichen, die die Anwendung der Folter rechtfertigen, übernimmt. Damit werden an die Stelle der bis dahin vielfach herrschenden regellosen Willkür bei der Anwendung dieses Mittels feste gesetzliche Regeln gesetzt. Bei vielen Deliktsarten sind die Anforderungen an die „genugsame Anzeygung“ recht streng. Die Beweise, die vorliegen müssen, ehe man zum Mittel der Tortur greift, würden einem modernen Richter oft schon zur Verurteilung hinreichen. (Daß man trotz Vorliegens erdrückender Beweise gleichwohl noch foltert, hängt mit Eigenheiten des damaligen Prozessverfahrens zusammen, die hier nicht zu erörtern sind.) Im Gegensatz zu der sonstigen Vorsicht heißt es in der c. c. Ph. unter der Überschrift: “Vom Verdacht der Räuberey”: “Item, so reysige oder fußknecht gewonlich bei den wirten liegen und zeren und nit soIche redliche dienst, handtierung oder gült, die sie haben, anzeygen können, darvon sie soIche zerung ziemlich tun mögen, die seind argkwonig und verdächtlich zu viI bösen sachen und allermeyst zu rauberey.” Hier ist man also mit der Folter verhaitnismäßig schnell bei der Hand, wobei man noch die Beweislast zu Ungunsten des Verdächtigten umkehrt. An dieser Strenge wird deutlich, wie seit dem Aufkommen geworbener Söldnerheere anstelle des mittelalterlichen, ständischen Lehensaufgebotes das Überhandnehmen beschäftigungsloser, der bürgerlichen Ordnung entwöhnter, vor keiner Gewalttat zurückschreckender Männer zu einer Gefahr geworden ist. Dass vollends ein System, das das Heer sich selbst durch gewaltsame Betreibung aus dem besetzten Lande ernähren lässt und das vom Soldaten als Preis seines Lehenseinsatzes in Anspruch genommene uneingeschränkte Recht auf Plünderung mindestens duldet, die Moral der Truppe zersetzen und der Kriminalität kräftige Antriebe geben muss, liegt auf der Hand. Ihre höchste Steigerung erreicht diese Entwicklung durch den Dreißigjährigen Krieg, in dem das Heer geradezu zu einer “Hochschule des Verbrechens” wird. „Das für verbrechensgeschichtliche Forschung wichtigste Objekt der Zeit (das ist die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts) ist das Heer, das auf die Kriminalität der Zeit den stärksten Einfluss ausgeübt hat.“ [Kraus 17]

Das gilt für den gesamten Bereich der Kriminalität, nicht nur für Straftaten gegen das Eigentum, aber für diese vorzugsweise. Nicht nur der Soldat selbst wird zum Kriminellen, auch die misshandelte und terrorisierte Zivilbevölkerung schlägt in Reaktion auf die ihr angetane Behandlung denselben Weg ein. [Kraus 51]

Was hier zunächst Notwehr oder verständliche Rache gewesen sein mag, wird schließlich auch bei der verarmten Bevölkerung Gewohnheit und Erwerb. Für Hessen sind die Verhältnisse jener Zeit anschaulich geschildert im Simplicius Simplicissimus [GRIMMELSHAUSEN, Simplicissimus, 15 H.; 38 H.; Über die grässliche Rache geplünderter Vogelsberger Bauern 41 ff.]

Der von GRIMMELSHAUSEN (aaO. S. 142) erwähnte Kroatenoberst Corpes, dessen Plünderungen im Stift Fulda und im Hersfeldischen geschildert werden, ist eine historische Figur gewesen.

Nicht nur der Feind treibt es arg im besetzten Gebiet. Ein Kriminalprozess von 1622/23 [StAM Bestand 260 Paket 21] gegen “den Kapitän und Schultheißen Michael Sultzer von Rauschenberg und seinen Lieutenant Georg Bender von Kirchhain wegen Räubereien in der Niedergrafschaft Katzenelnbogen, als sie van Landgraf Moritz zu Schutz und Defension der Untertanen dorthin abgefertiget”, zeigt, wie weit die Verwilderung und Zuchtlosigkeit schon in den ersten Kriegsjahren gediehen ist. Die Angaben über die Herkunft und die bürgerliche Stellung der Beschuldigten zeigen, dass es sich nicht einmal um landfremde geworbene Soldner, sondern um Hessen von Geburt und Herkunft und offenbar Angehörige einer Landausschußformation handelt, die sich hier im eigenen Gebiet so verhalten.

Entlassene oder desertierte Soldaten sollten sich auch in den Zeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg als die kräftigste Stütze eines bandenmäßigen Räubertums erweisen. Sie wissen einen Überfall militärisch-fachmännisch zu organisieren, kennen die Art der Verstecke, in denen die Hausbewohner ihre Wertsachen zu verbergen pflegen, und verstehen es, einen Überfallenen, der Widerstand leistet oder sich verstockt zeigt, „zweckentsprechend” zu behandeln.

Ein ähnlicher Fall van Bauernrache, wie ihn GRIMMELSHAUSEN beschreibt, findet sich in den Kriminalakten gegen “Kuntz Menckell (in den Akten auch “Menchen'” geschrieben), Theiß Scheffer und Konsorten von Niederasphe bei Wetter und gegen Theiß Soldan und Konsorten von Obersimtshausen bei Wetter wegen Ermordung und Beraubung dreier kurbairischer Reiter vom Werdischen (Werth’schen) Regiment am 16.4.1642 auf der Walkemühle bei Wetter [StAM Bestand 260 Paket 23] . Veranlasst oder jedenfalls befördert worden ist die Einleitung des Verfahrens durch Bürgermeister und Rat von Wetter, die befürchten, man könne die Tat einem ihrer Bürger anlasten und die Stadt darüber ihrer bayrischen „salva guardia” verlustig gehen und etwa gar weitere Repressalien von seiten der mit Hessen-Darmstadt verbündeten Bayern auf sich ziehen. Außerdem sucht die Stadt jemand, von dem sie die 20 ThaIer, die sie für das Begräbnis der getöteten Reiter hat aufwenden müssen, zurückerhält. Obwohl die Beschuldigten ehrliche, eingesessene Bauern der Umgegend sind, hält der Fiskal doch dafür, sie hatten sich zusammen rottiert, um einen räuberischen Anschlag auf die Reiter zu unternehmen und hatten dieselben ausgeplündert und „ermördert”. Die Beschuldigten verteidigten sich in einer Defensionsschrift gegen diesen Vorwurf: Kurz zuvor hatten bayrische Streifscharen dem Theiß Scheffer 50 und Kuntze Menchen 30 Stück Vieh gewaltsam weggenommen, auch den anderen Beteiligten großen Schaden zugefügt und in Niederasphe ein Weib genotzüchtigt. Sie hatten sich in gerechter Notwehr bewaffnet aufgemacht, um den Räubern ihre Beute wieder abzujagen. Als sie bei Nacht auf die in der Walkemühle rastenden Reiter gestoßen seien, hatten sie diese, die sie für Angehörige der plündernden bayrischen Streifschar gehalten hatten, aufgefordert, sich gefangen zu geben. Dabei sei in Notwehr einer der

Reiter, der die Pistole auf sie angeschlagen habe, erschossen worden. Die beiden anderen Reiter hatten sie in den Wald geführt und sie dort laufen gelassen. Allerdings hatten sie, “um sich nach so großen Verlusten etwas zu rekoIligieren und zu ergötzen”, die Pferde der Reiter an sich genommen. Was die Reiter sonst bei sich gehabt hatten, sei “nit des uffhebens wert” gewesen. Gegen die Beschuldigten spricht, dass die Zugehörigkeit der Reiter zu der Streifpartei, die sich Übergriffe hatte zuschulden kommen lassen, keineswegs feststeht. Die Leiche des angeblich in Notwehr Erschossenen haben sie in die Wettschaft geworfen, als ob sie hier etwas zu verbergen gehabt hatten, und die bis auf die Haut ausgeplünderten Leichen der beiden angeblich laufen gelassenen Reiter sind einige Wochen nach dem Vorgang mit durchgeschnittenen Kehlen in den Wäldern des Wollenberges aufgefunden worden.

Der Prozess endet mit einem salomonischen Urteil: Die Beschuldigten werden von der Anklage des Raubmordes absolviert, müssen aber wegen begangenen Notwehrexzesses eine Buße von 100 Talern zahlen.

Haben in diesem Fall verständliches Rachebedürfnis und entschuldbares Streben nach Vergeltung erlittener Unbill sicherlich eine wesentliche Rolle gespielt, so überwiegt allem Anschein nach die rein kriminelle Seite in dem Schmalkaldener Kriminalprozess von 1626 wegen Mord und Straßenräuberei gegen “Valten Frefel, die Brüder Thomas und Hans Huen, Peter Huen junior, Valten Flechner, begangen an einem bairischen Kornett, welcher Briefe von Tilly an Wallenstein bei sich gehabt (welche man hinterher im Wald ganz “verrnoddert” gefunden) und an einem Marketender auf dem Doringer Walde” [SIAM Bestand 260 Paket 22]. Und in dem Strafverfahren von 1631 gegen Daniel Weber aus Somplar Amts Frankenberg (einen ehemaligen Ackerknecht) und Martin Donnemann aus Stadtbergen (von denen Weber enthauptet, Donnemann ausgepeitscht und an den Pranger gestellt wird) [StAM Bestand 260 Paket 23] haben wir schon durchaus Mitglieder einer mehrköpfigen, nicht sesshaften Verbrecherbande vor uns, die in Oberhessen zahlreiche Diebstähle, Straßenräubereien und Raubmorde verübt hat. Bemerkenswert ist, dass die Bande unter anderem die Beute aus einem Pferdediebstahl in Zwesten verkauft, einem Ort, der noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als Gaunertreffpunkt verrufen ist.

3. Entartung des Fehdewesens und Verwilderung des Soldatenstandes mit ihren Folgen auch für die Zivilbevölkerung – das alles sind verbrecherische Elemente, die zur Entstehung des Berufsverbrechertums beigetragen haben, sie bedeuten aber noch nicht das Berufsverbrechertum in seiner Vollendung. Das Berufsverbrechertum, das Gegenstand unserer Betrachtung ist, ist sehr viel bunter und vielfaltiger zusammengesetzt und aus zahlreichen Keimen erwachsen.

4. Der Nährboden, aus dem die böse Saat entspringt, ist die Landstraße, ihre Wurzeln sind das “Fahrende Volk”, das sich in einem durch die Jahrhunderte nicht abreißenden Elendszug über die Straßen des deutschen Mittelalters wälzt [Vgl. im einzelnen RADBRUCH 84 H., HAMPE 16, 18 ff., 46, 64 H., LIEB 103; spez. über das Gelehrtenproletariat SPIEGEL a. a. O.]. Es bildet sich in mehreren, zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Gründen erfolgenden Schüben. Neben den bereits besprochenen, beschäftigungslosen Landsknechten und Soldaten (und der Riesenschar von Markentenderinnen, Dirnen, Troßjungen und anderem Nachtrab, der in Kriegszeiten einem Söldnerheer zu folgen pflegt), gehören zu dieser Schar landlos gewordene Bauern, deren Zahl besonders durch die Folgen der Bauernkriege anschwillt, dann die große Zahl der Geächteten und der Landesverwiesenen, einer bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts praktizierten Abart der Acht. Ächter und Landesverwiesene sind vielfach Opfer einer fehlgehenden strafrechtlichen Reaktion [Über die Anwendung der Acht s. HIS 448 und 533 ff.], die das Gegenteil des Bezweckten erreicht: Der aus der Gesellschaft Ausgestoßene wird dem Verbrechen erst recht in die Arme getrieben. Es gehören weiter dazu Bettler (die das Mittelalter förmlich gezüchtet hatte aIs notwendige Objekte christlicher Barmherzigkeit), wandernde

Spielleute, Gaukler und Schausteller, auf der Wanderschaft entgleiste Handwerksgesellen, das Gelehrtenproletariat ihrem geistlichen Stand entlaufener Priester und Mönche, fahrender Scholaren und Bacchanten, ein Gelehrtenproletariat, das sich vom sonstigen Proletariat der Landstraße allenfalls durch die Kenntnis einiger lateinischer Sprachbrocken unterscheidet.

Wie bisweilen eine von den besten Absichten getragene obrigkeitliche Reglementierung des Lebens der Untertanen ähnlich den Folgen verfehlter strafrechtlicher Reaktionsweisen einen Menschen aus seiner Sesshaftigkeit verdrängen und damit der Versuchung zur Begehung von Straftaten aussetzen kann, zeigt der Kriminalprozess gegen Hermann Polck oder Bolck aus Amonau b. Wetter 1619 [StAM Bestand 260 Paket 20: “Krim. Proz. gegen Herm. Bolck van Amenau wegen Einbruchs und Raub”; und “Krim. Proz. gegen Herm. Polck von Amenau wegen Diebstahl, Einbruch und Entführung eines Mädchens”.]. Der in Amönau ansässig gewesene Beschuldigte hatte sich mehrere Jahre außer Landes aufgehalten, als er unter dem Verdacht, an mehreren Einbrüchen und Überfällen in der Gegend von Wetter beteiligt gewesen zu sein, festgenommen wurde. Befragt, warum er von Amönau weg sei, erklärt er: “Seine Frau sei von ihm abgewichen”. Er habe “sich an eine andere gehencket und diese geschwängert. Da er sich vor der Buße geforcht habe, sei er mit dem Mensche davongezogen,” habe sich zeitweise als Kuhhirte und Korbmacher ernährt, zur Zeit der ihm zur Last gelegten Straftat habe er sich zeitweise bei seinem Vater in Amönau aufgehalten, sei ab- und zugegangen und habe gelegentlich als Pfeifer bei Hochzeiten aufgespielt. (Das Mädchen hat inzwischen von ihm vier Kinder.) Er wird von der Anklage des Diebstahls mangels Beweises absolviert, aber wegen seines bösen Wandels an den Pranger gestellt und des Landes verwiesen.

Hier zeigt sich an einem Beispiel die Kehrseite der von den hessischen Landgrafen im 16. Jahrhundert erlassenen zahlreichen Verordnungen gegen “Hurerei” und Ehebruch, auf deren Anwendung seit der Reformation mit puritanischer Strenge von Amts wegen gesehen wird. Der Auffassung, die solche Anordnungen hervorbringt, der Vorstellung, der Fürst sei als ein christlicher Landesvater im Gewissen verpflichtet, seine Untertanen notfalls mit Zwang und Strafe zu einem moralischen Verhalten anzuhalten, liegt die Erkenntnis noch fern, dass sie damit Aufgaben und Ziele staatlicher Strafgewalt überschreitet und so anstelle der sittlichen Gefahren, die sie auf diese Weise zu verhindern glaubt, andere heraufbeschwört.

Seit den Kreuzzügen kommen zu den Fahrenden hinzu die Opfer der Judenverfolgungen und der bis in das 15.116. Jahrhundert hinein in Abstanden immer wieder erfolgenden Austreibung der Juden aus den Städten. Soweit es diesen, ihrem Wesen nach sesshaften und städtischen Menschen, nicht gelingt, im ländlichen Handel Fuß zu fassen und sich so eine neue Existenz zu gründen, bleibt ihnen nur die Landstraße. Das bedeutet wie stets auch in diesem Fall für die Ausgestoßenen Isolierung und Rechtlosigkeit inmitten einer feindlich-ablehnenden Gesellschaft. Das allein schon kann den Betroffenen der Versuchung aussetzen, Straftaten zu begehen. Eine Hinwendung zum Kriminellen, speziell zur Form der Eigentums-Kriminalität, wird hier nun noch begünstigt durch die selbst schon halb kriminellen Vorrechte, die die Gesellschaft des Mittelalters diesen Menschen um “ihrer ziemblichen Nahrung willen” zugebilligt hatte, ihre mittelalterlichen Wucher- und Hehlerprivilegien, die sie zwangsläufig in Verbindung mit räuberischen und diebischen Elementen bringen mussten. Das führt entwurzelte Juden schließlich zu einer der jüdischen Eigenart sehr fernliegenden Art der Kriminalität, einer gewaltsamen Raub-Kriminalität, wie ihre starke Beteiligung an den Räuberbanden des 18. Jahrhunderts zeigt; es erklärt auch den erheblichen Anteil hebraisch-jiddischer Sprachbestandteile am Gauner-Rotwelsch  [RADBRUCH 91]

Schließlich gehören zu den Fahrenden die 1417 erstmals in Deutschland auftretenden Zigeuner. Mit ihnen erscheint eine auf der Stufe eines steinzeitlichen nomadischen Jäger- und Sammlervolkes stehengebliebene Menschengruppe, zudem von Natur behaftet mit einer Neigung zu triebhafter Gewalttätigkeit, Eigenschaften, die sie bald in einen Gegensatz zu ihrer anders gearteten Umwelt bringen müssen. Die Zigeuner nehmen allerdings insofern eine Sonderstellung ein, als sie sich meist für sich halten und sich ungern mit Nichtzigeunern zusammentun.

Indem die zum Verbrechen prädisponierten Elemente aus dieser bunten Heerschar der Fahrenden allmählich zu einer einheitlichen sozialen Schicht, eben dem “Gaunertum”, einer Schicht, die als solche rechtlos außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ihrer Zeit steht, verschmelzen, bildet sich das Berufsverbrechertum, das der eigentliche Gegenstand unserer Betrachtung ist.


III.

  1. Wir dürfen die endgültige Bildung und Vollendung dieses sozialen Phänomens nicht vor Anfang des 17. Jahrhunderts ansetzen. Selbstverständlich hat es Scharen unverbesserlicher Diebe und Räuber zu allen Zeiten gegeben. Aber es fehlt das verbindende Merkmal der Zugehörigkeit zu einer einheitlichen sozialen Schicht. Mittelalterliche Landfrieden und Reichstagsabschiede, die sich gegen das Fehdewesen wenden, haben in erster Linie die durch die Entartung des Fehdewesens bewirkte Störung des öffentlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung im Auge. Auch wenn sie dabei von Mordbrennern und Räubern sprechen, kennen sie ein Berufsverbrechertum im eigentlichen Sinne noch nicht! [SCHÄFFER 395] Der “landschädliche Mann”, den Reichstagsabschiede und Landfriedensgesetze des Mittelalters kennen, und den sie einem höchst summarischen Prozessverfahren unterwerfen, trägt nicht ohne weiteres die soziologischen Merkmale des Berufsverbrechers. Er ist dem Begriff nach nichts weiter als der (ortsfremde) Täter einer todeswürdigen Tat [EBERHARD SCHMIDT 78], ohne dass diese Voraussetzung nun gerade auf eine berufsmäßige Eigentums-Kriminalität hin eingeengt wäre. Der Begriff umfasst auch etwa den Landfriedensbrecher, den Brandstifter und den sogenannten “Landzwinger” (Michael Kohlhaas!). alles Tätertypen, die sich vom Bild des berufsmäßigen Eigentumsverbrechers unterscheiden.

Mittelalterliche Ratsmandate oder Darstellungen wie der Liber Vagatorum [s. den Abdruck bei AVE LALLEMANT I, 159 ff.] vom Ende des 15. Jahrhunderts, die sich gegen das Bettlerunwesen wenden, behandeln den Bettler noch nicht als potenzielles Mitglied eines Berufsverbrechertums, als Sozialschädling, sondern eher als ein nur sozial lastiges Element, als kriminell nur, soweit sie etwa betrügen oder bei Almosenverweigerung als Landzwinger auftreten. Gesetzliche Anordnungen des 16. Jahrhunderts, die den Schutz des Handelsverkehrs und der Straßen sichern wollen, kennen wohl den plündernden und raubenden Landsknecht, wenden sich aber nur gegen diesen speziell und kennen eine besondere Schicht berufsmäßiger Gauner noch nicht. Dieses Bild kehrt auch in den hessischen Landesordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts wieder. In dem Fürstlichen Ausschreiben vom 18.7.1524 [HLO I, 47] heißt es zwischen Anordnungen über das Zutrinken, Fluchen, Schwören und Gotteslästern und gegen den übertriebenen Aufwand bei Kindtaufen u. a.: “Es ist unser meynung, … das Du [der Beamte, an den das Rescript gerichtet ist] in unserem ambt keynen fremden Bettler, die in unseren gerichten und gepieten nicht geboren seyn oder gewont haben [dulden sollst] desgleichen stationierer oder die mit heylthum furen umbgehen.” Man soll „so eyn arm Mensch widder zurück aus unserem Fürstenthum weisen und nicht weyther hynnein lassen … und mit ernstlichem vleyss daran seyn, das eyne jede Stadt seyne arme notdürftige leut umb Gots willen selbst underhellt … “. Desgleichen seien Zigeuner und landfremde Juden nicht zuzulassen. Es ist im Wesentlichen der gleiche Personenkreis, der im Liber vagatorum gemeint ist. Man sieht, es ist noch nicht die Abwehr eines Berufsverbrechertums, die diese Anordnung veranlasst, sondern es sind rein wohlfahrts- und ordnungspolizeiliche Gesichtspunkte. Das Gleiche gilt von der Reformationsordnung von 1526 [HLO I, 49.]

Die Verordnung Philipps des Großmütigen vom 10. 4. 1566, die älteren Verordnungen von 1540 und 1541 erneut einschärft und wiederholt, “wie die Landstraßen gegen das Rauben und Plündern solIen sichergestellet werden”, wendet sich ausschließlich gegen die gartenden Landsknechte als die gefährlichen Leute, von denen Raub und Diebstahl zu besorgen ist. (” … dieweill es denn auch tzu diesen zeitten von wegen der schwebenden Kriegsläufft vil … herrenloser Knecht gibtt, die, weil sie sonderlich nichts haben, mit Rauben, Plündern und Dottschlagen sich neren.” [HLO I, 217]

Ein Ausschreiben Wilhelms IV. vom 18.02.1582 [HLO I, 451] enthält neben Richtlinien über das Schönschreiben der Kinder in den Schulen Anordnungen über das Zurückweisen der Zigeuner an den Landesgrenzen. Auch hier ist von Raub- und Diebstahlsverbrechen, deren man sich von ihnen zu versehen hatte, noch keine Rede. Sie werden vielmehr behandelt als “loses gesindt, als welches nichts anderes denn Ausspeher, verrether der Christen und Landtbetrieger seindt.” (Es ist die verbreitete Meinung, die die Zigeuner für türkische Spione hält.)

Das Ausschreiben vom 05.05.1582 [HLO I, 454] richtet sich “wider sich einschleichende fremde Bettler, besonders die, so Feuer legen.” Gemeint ist hier offenbar nicht vorsätzliche Brandstiftung, sonst wäre dabei von “Mordbrennern” die Rede gewesen, sondern fahrlässige Brandstiftung etwa durch leichtsinnigen Umgang mit Kochfeuern. Sie sollen ausgewiesen werden, “sindte mahl pillig, dass ein jedes Landt seine Bettler ernehre.” Auch hier zeigen sich nur wohlfahrtspolizeiliche, modern gesprochen fürsorgerechtliche Erwägungen.

Erst das Fürstliche Ausschreiben vom 08.05.1616 [HLO I, 562] “gegen das verdächtige, herrenlose, mörderische Diebsgesindel” nennt neben “fremden Soldaten und Gartknechten” auch “ander verdächtig herrenlos Gesindtlein, von denen verschiedene hochsträffliche Mordt- und räuberische einfäll und Angriffe geschehen.” Diese Leute pflegten sich – bezeichnend für den Berufskriminellen jener Zeit – nicht in öffentlichen Wirtshäusern und Städten, sondern in entlegenen Wüstungen und Gehölzen, Einödshöfen und an verdächtigen Orten aufzuhalten. Hier ist der erste gesetzliche Hinweis auf ein vagierendes Verbrechertum, das sich nicht auf entlassene Soldaten allein beschränkt [Das erste Patent gegen berufsmäßige Gauner in Schwaben stammt nach SCHÄFFER 339 aus 1654].

Das Edikt vom 16.03.1622 “gegen das Brandschatzen, Morden, Plündern, Rauben und Streifen” [HLO I, 612] wendet sich zwar nur gegen umherziehende Scharen fremden Kriegsvolks, von dem ,,Streyfereien, Plündereien, Einfälle oder dergleichen Hostilitäten” zu besorgen und ordnet verstärkte Dorfwachen und die Anlegung von Straßensperren an, ist also mehr eine Maßnahme der äußeren Landesdefension. Deutlich richtet sich jedoch das Edikt vom 04.04.1637 „gegen das eigenmächtige Einquartieren, Erpressen, Plündern, Rauben und Stehlen” [HLO II, 70] und das vom 21.06.1652 “gegen die Mörder und Straßenräuber” [HLO II, 158] gegen ein als solches erkanntes Berufsverbrechertum. Für die Verkehrsverhältnisse jener Zeit bezeichnend und eine Erklärung und Veranschaulichung des Umstandes, dass das Gaunertum sich auf dem Lande, außerhalb der Städte, so fest behaupten kann und so schwer zu verfolgen ist, bietet eine Stelle des letztgenannten Edikts, in der es heißt: „ … Unser Befehl und unsere Meinung, dass alle unsere Gehöltze und Landstraßen uffs schleunigste beritten, durchgangen, besichtiget und do etwa newe oder alte neben= oder abwege befunden werden, dadurch die Thäter leichtlich entrinnen … könnten, alsdann jeglichen Orths der Anstalt gemacht werde, damit solche nebenwege zu holtz und felde . .. besonders an gefährlichen orten in den Wäldern verhawen, abgestochen oder sonst dermaßen zugerichtet werden, damit die flüchtigen Thäter bei der Nacheile auff und in der offenen Straße zu behalten seyen mögen.“

Man erkennt hieraus die Unwegsamkeit und noch geringe verkehrsmäßige Erschließung des Landes, die den besonders wirksamen berittenen Streifen Grenzen setzt, und fragt sich andererseits, welchen Nutzen eine solche Maßnahme gegenüber zu Fuß marschierenden und daher nicht auf die Benutzung gebahnter Wege angewiesenen Verbrechern hätte haben können.

In dieselbe Richtung wie die eben erwähnten Edikte deutet mindestens auch das Patent vom 24.11.1652 [HLO II, 167] gegen die “Wilddieberey und Wildschützen”, wenn darin u. a. gesprochen wird von „ausländischen Wildschützen und schweifenden, verdächtigen Gesellen mit Rohren und anderen Mörderlichen Gewehren.” Dass die von diesen Edikten angesprochenen Personenkreise sich jedenfalls überdecken, dürfte kaum zweifelhaft sein.

In der Tat empfängt das soziale Phänomen des Berufsverbrechertums im und durch den Dreißigjährigen Krieg seine Vollendung und steht nun in den Jahrzehnten nach dem Großen Krieg fertig vor uns als ein in Jahrhunderten gewachsenes Gebilde: eine verfestigte soziale Schicht von Berufsverbrechern, die, nicht sesshaft, durch die Lande ziehend, von Raub und Diebstahllebt, vielfach über Ländergrenzen hinweg verfilzt und verflachten, die sich ihr eigenes Brauchtum und seit dem 15. Jahrhundert im Gauner-Rotwelsch (einem bunten Flickenteppich von Sprachfetzen aus aller Herren Lander – deutsch, hebräisch, tschechisch, kroatisch, lateinisch, italienisch, zigeunerisch usw.) ihre eigene Sprache geschaffen hat, deren Angehörige sich untereinander als zusammengehörig und die bürgerliche Gesellschaft, von der sie ausgestoßen sind und die sie als rechtlos behandelt, als ihren unversöhnlichen Feind empfindet. Ihr unstetes Vagieren, ihre Nichtsesshaftigkeit, unterscheidet sie von einheimischen Bettlern und Dieben, die berufsmäßige Betätigung ihrer kriminellen Neigung von dem nur gelegentlich oder situationsbedingt Bettelnden oder Stehlenden. Sie bilden die Klasse der sogenannten “Jenischen Leute”, auch “Jauner” oder “Gauner” [Von hebraisch “janâ”, jemand übervorteilen; s. GÜNTHER 5], was der den Räuber miteinschließende Oberbegriff ist, der den berufsmäßigen Eigentumskriminellen schlechthin, gleich welcher Betätigungsform, meint.

  1. Die Betätigungsformen dieses Berufsverbrechertums sind jedoch andere als die des heutigen Berufsverbrechers. Das zeigt ein Blick in eine moderne Kriminalstatistik. Dabei ergeben sich im Vergleich von heute und früher wesentliche Unterschiede im Hinblick auf die Tatausführung und auf die Wahl der bevorzugten Tatgegenden. Unter rund 5 800 Fallen von Raub und Räuberischer Erpressung und rund 196000 Fällen von schwerem Diebstahl, die 1960 in der Bundesrepublik begangen worden sind, befinden sich nur 331 Fälle, bei denen der Täter Schusswaffen mit sich geführt hat, was keineswegs heißt, dass er von der Waffe auch in allen Fällen Gebrauch gemacht hat [s. Bundeskriminalstatistik 1960]. In aller Regel wird die Tat heimlich und mit List oder unter Ausnutzung eines Überraschungsmoments durchgeführt, das schnellstes Verschwinden nach der Tat erlaubt. Im Gegensatz dazu ist es in früheren Zeiten die Regel, dass der Räuber oder gewaltsame Einbrecher von der fast immer mitgeführten Waffe auch ohne Notwendigkeit rücksichtslos Gebrauch macht und öffentliches Aufsehen bei der Tat kaum scheut. Heute ist das eine verhältnismäßig seltene Ausnahme und jedenfalls kaum typisch für die Kriminalität unserer Zeit. Die sensationellen Schlagzeilen, die solche ungewöhnlichen Taten hervorrufen, dürfen nicht über ihre wirkliche Bedeutung im Rahmen unserer Gesamt-Kriminalität täuschen. Die Tatausführung früherer Zeiten ist primitiver, während man die Kriminalität der Gegenwart mehr eine Intelligenz-Kriminalität nennen kann. Dieser Unterschied mag einmal auf die heute mehr als früher in Erscheinung tretende Neigung des Berufsverbrechers, seine Verbrechensausübung zu spezialisieren und zu rationalisieren, zurückzuführen sein. Man will sich nicht mehr strafrechtliche Schuld aufladen, als zur Ausführung der vorgesetzten Diebstahlsabsicht unbedingt erforderlich ist. Der Berufsverbrecher vergangener Zeiten kennt eine solche Rationalisierung und Spezialisierung noch nicht [SCHÄFER 5] soweit er zum “formlos-primitiven” Typ gehört, liegt sie ihm, wie erwähnt, ohnehin nicht. Zur heutigen Entwicklung mag eine gegenüber früher humanere und stärker differenzierende Strafjustiz beigetragen haben, während noch in der Strafjustiz des 17. Jahrhunderts mindestens der rückfällige Dieb ohnehin mit dem Galgen zu rechnen hatte, dem Räuber Schwert und Rad drohten. Dem älteren Berufsverbrecher “kam es also nicht darauf an”, ob er sein Opfer verletzte oder tötete. Noch augenfälliger ist der Unterschied in den bevorzugten Tatgegenden. Von den 1960 begangenen Raubtaten sind in Großstädten begangen, 62% von den schweren und einfachen Diebstahlen 56%. Da der Bevölkerungsanteil der Großstadtbevölkerung an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebiets rund 33% beträgt, liegt der Schwerpunkt der Raub- und Diebstahls-Kriminalität heute eindeutig in der Großstadt. Jahrhundertelang ist das Verhältnis umgekehrt gewesen. Unsicher und höchst gefährdet waren der abgelegene Hof, das kleine Dorf und die offene Landstraße, während die Stadt demgegenüber eine relative Sicherheit bot. Dieser Unterschied erklärt sich aus der auf dem Lande im 17. und auch im 18. Jahrhundert noch schwach entwickelten staatlichen Verwaltung und Polizei (s. darüber im Einzelnen später) und der geringen verkehrsmäßigen Erschließung des nur relativ dünn besiedelten Landes. Unwegsame Wälder, Einödshöfe und abgelegene Wirtshäuser boten Unterschlupf genug. (In Hessen im 18. Jahrhundert unternommene Versuche, abgesondert liegenden Wirtshäusern, besonders solchen in Grenznähe, die Ausschankerlaubnis zu entziehen, hatten im Endergebnis keinen Erfolg.) Eben diese Umstände erklären auch, dass das Gaunertum “auf und von der Landstraße” [RADBRUCH 84] leben kann. Im Gegensatz dazu bietet die Stadt in einer Zeit, in der Gemeinwesen von 20-25000 Einwohnern zu den bedeutenden Großstädten zahlen, überschaubare Verhältnisse, in denen der Verbrecher sich nicht so leicht wie auf dem Lande verbergen kann, zumal der städtische Mauerring Zu- und Abgang nur durch die kontrollierten Stadttore gestattet. In den Städten, zumal den größeren Reichsstädten, ist die Polizei kräftiger entwickelt und besser organisiert, Bürgerwachen sorgen für die öffentliche Sicherheit. In Hessen sind seit dem 18. Jahrhundert die Städte vielfach mit Garnisonen belegt, was eine weitere Sicherung bedeutet.

IV.

Für vergangene Zeiten fehlen exakte statistische Unterlagen, aus denen man genaue Zahlen über die Wirksamkeit des Berufsverbrechertums und ihr Verhältnis zur Gesamt-Kriminalität der Zeit im Allgemeinen erheben konnte. Jedoch muss man aus den immer wieder erneuten Verordnungen gegen das vagierende Gaunerturn, der sich immer mehr übersteigernden und oft geradezu verzweifelt anmutenden Abwehr, die aus ihnen spricht, schließen, dass das Berufsverbrechertum des 17. und 18. Jahrhunderts eine wahre Pest für alle deutschen Länder gewesen sein muss. Mindestens scheint die Vermutung gerechtfertigt, dass die Wegnahme fremden Eigentums damals, wie heute an der Spitze aller kriminellen Delikte überhaupt gestanden hat, mit dem einzigen Unterschied, dass damals eine gewaltsame, heute mehr eine heimliche und listige Betätigung bevorzugt wird.
Das alles spiegelt sich auch wieder in dem Niederschlag, den die Bemühungen um die Verbrechensbekämpfung in den hessischen Gesetzen und Landesordnungen gefunden haben. In der Häufung immer neu eingeschärfter Anordnungen gegen wirkliche und potenzielle vagabundierende Verbrecher, in den z. T. radikalen Maßnahmen, die sie androhen, wird das Oberhandnehmen des Vagabundentums und seine schädlichen Auswirkungen für die Allgemeinheit deutlich. Diese Anordnungen sind nicht einem bloßen Bedürfnis nach theoretischem Moralisieren entsprungen, sondern sind, wie die Geschichte der Banden des 18. Jahrhunderts zeigt, durch sehr wirkliche und handfeste Gründe veranlasst. Sie veranschaulichen gleichzeitig, wie die Angehörigen der Gaunerschicht rechtlos außerhalb der Gesellschaft stehen.

Nach dem Edikt vom 16.08.1689 [HLO III, 344], das ein ähnliches von 1684 verschärft, “gegen das im Land … vagierende, liederliche, lose, des Feuerlegens verdächtige Gesindel und gegen die Mordbrenner”, das bestimmt, wer mit einem gefälschten Passe betroffen werde, solle schon allein deswegen als Mordbrenner behandelt werden, folgt das Edikt vom 06.01.1698″ [HLO IlI, 410] “gegen verdächtige Reiter und Fußgänger, auch anderes dergleichen Gesindel, von welchem Rauben, Plündern und Morden zu besorgen.” Ein neues Edikt wird nötig am 30. 8, 1712 [HLO IlI, 693] “wegen der Zigeuner, fremden Betteljuden, Landstreicher und Deserteurs,” Wer sich von diesen ins Land einschleicht, hat mit Auspeitschung und Brandmarkung, im Wiederholungsfall mit schärferen Strafen zu rechnen.

Dieses, wie das nächste Edikt vom 24.07.1714 [HLO III, 758] “wider das Einbrechen, Stehlen und Rauben” fallen zeitlich mit dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges und einem neuen massenweisen Auftreten entlassener Soldaten zusammen. (Juli 1713 Friede zu Utrecht.) Es heißt in letzterem Edikt: “Das Einbrechen, Stehlen und Rauben ist in unseren wie benachbarten Landen so gemein geworden, dass vornehmlich auf abgesondert liegenden Ortschaften fast niemand seines Guts, ja sogar seines Lebens … in eigener Behausung mehr sicher seye.” Auch das Edikt vom 24.04.1719 [HLO Ill, 817] “wider die Vaganten, Bettler, Mordbrenner und Zigeuner” steht noch in zeitlicher Nähe zum Ende dieses großen Krieges. Es bestimmt: alle fremden Bettler, Landstreicher, in Unseren Diensten nicht stehende Blessierte oder Invaliden, Betteljuden und anderes herrenloses Gesindel sei binnen 14 Tagen auszuweisen. Das Edikt vom 26.05.1735 [HLO IV, 287] “wider die Räuber- und Zigeunerbanden, auch sonstiges liederliches Gesindel und Vaganten,” die sich „mit Ausübung allerley Schadens, auch zum Teil gewaltsamen Einbrüchen hervorgetan”, zeigt, dass sich die Verhältnisse noch nicht gebessert haben. Es wird die Errichtung von Schlagbäumen an den Dorfeingängen und die Einrichtung von Nachtwarnen in den Dörfern angeordnet (die mit Klappern und mit eisenbeschlagenen Stangen ausgerüstet werden sollen; eine sehr unzureichende Vorkehrung gegen die meist schwer bewaffneten Räuberbanden.) Es folgen Regierungsausschreiben und Edikte von 1742, 1744, 1746, 1751 und 1757 [HLO IV, 809 u. 869, 940; V, 29 u. 161], die frühere Verordnungen, an die sich offenbar nicht streng gehalten wird, in Erinnerung bringen; die Bauern sollen bei dem Auftauchen von Gaunern Sturm läuten und etwa in der Nähe befindliches Militär daraufhin unaufgefordert zur Hilfe eilen. Die Vagabundenordnung vom 13. 2. 1763 [HLO VI, 72] “gegen Bettler, Landstreicher, Vagabunden, Zigeuner, Betteljuden und übriges Diebsgesindel” klagt erneut über „böses, herrenloses Diebsgesindel, [das sich] sowohl einzeln als rottenweise mit Anrichtung mancherley Schadens und Verübung gewaltsamer Einbrüche … häufig verspühren lasse.” Landfremde Vaganten seien binnen 14 Tagen auszuweisen, einheimische Bettler an ihren Wohnort zu verbringen, der Heimatgemeinde liege es ob, bei Arbeitsunfähigkeit für den Unterhalt aufzukommen. Einsame Mühlen, Wirtshäuser und Einödshöfe seien häufiger durch Militär zu visitieren. Den Herbergswirten wird ihre Pflicht, Fremde zu melden, eingeschärft. 1772, 1773 und 1784 muss die Befolgung dieser Vorschrift erneut eingeschärft werden [HLO VI, 631, 699, 1155]. 1789 warnt ein Regierungsausschreiben [HLO VII, 368] vor einer an der sächsischen Grenze aufgetretenen Räuberbande, die angeblich aus von Frankreich her zugelaufenem Gesindel bestehen soll. Am 24.04.1794 [HLO VII, 601] ergeht ein Regierungsausschreiben an die adeligen Patrimonialgerichtsherren “wegen der zeither so häufig gewordenen Diebstähle”: Verurteilte Diebe sollen vor ihrer Verbringung ins Zuchthaus zur allgemeinen Abschreckung öffentlich in loco delicti an den Pranger gestellt und “bey der Gelegenheit der Gemeinde, besonders der Jugend, gute Lehren gegeben werden.” Zigeuner sollen künftig, auch ohne dass sie einer Straftat verdächtig sind, ad opus publicum (d. i. die damalige schwerste Form der Freiheitsstrafe, eigentlich nur eine Todesstrafe, deren Vollstreckung in die Länge gezogen ist, bei der der Verurteilte an eine Kette geschmiedet, anstrengendste körperliche Arbeit zu verrichten hatte) gebracht werden.

Die Verordnung vom 21.11.1798 [HLO VII, 790] erneuert wiederum ältere Verordnungen gegen Bettler, auch Diebes- und Räuberbanden. Die Verordnung vom 18.09.1801 [HLO VIII, 58] “wegen der Landstreicher und Räuber” verordnet “im Gefolge einer mit mehreren löblichen Ständen der benachbarten Reichskreise wegen des jetzt in gefährlichen Rotten umherziehenden Raubgesindels getroffenen Obereinkunft”: Streifzüge nach und Verfolgung von Gaunern dürfen auch über die Landesgrenzen hinausgehen, nur sind etwaige Gefangene dem foro deprehensionis auszuliefern. Sei bewaffneten Sanden soll nach Maßgabe der Oberrheinischen Kreissanktion von 1748 verfahren werden: Sofortige Feuereröffnung, wenn sie sich nicht auf den ersten Anruf ergeben; die, die man lebend fängt, sind in summarischem Verfahren, auch wenn sie keines anderen Verbrechens überwiesen sind, allein wegen ihres bösen Beharrens, in ihrem dem gemeinen Wesen höchst nachteiligen Lebenswandel zu hangen. Am 13.04.1805 wird die Beachtung dieser Vorschrift erneut eingeschärft.


V.

  1. Das Auftreten der berufsmäßigen Gaunerbanden, wie sie durch die im vorhergehenden Abschnitt aufgeführten gesetzlichen Bestimmungen gekennzeichnet werden, und die Sisyphusarbeit des obrigkeitlichen Kampfes gegen sie hat im Bewusstsein unseres Volkes tiefe Spuren hinterlassen. Das reicht hin bis zum kindlichen Spiel “Räuber und Gendarm”, in dem noch die Erinnerung an die Zeiten nachklingt, als noch Militär zur Bekämpfung des vagierenden Gaunertum aufgeboten werden musste. Gewisse Haupt-Räuber haben in den Gegenden ihrer ehemaligen Wirksamkeit einen fast legendären Ruf hinterlassen: in Schwaben der Hannickel und der Sonnenwirtle, in Bayern der Bayernsepp und der Bayrische Hias, in Norddeutschland Nickel List, in Sachsen Lips Tullian und im Mittelrhein: und Moselgebiet der Schinderhannes, der als der deutsche Räuber kat’exochen gilt, obwohl er diesen Ruf gar nicht verdient. In einer Gegenbewegung gegen den platten Rationalismus der Zeit hat sich vom späten 18. Jahrhundert an die schöne Literatur vielfach des durch die Bekämpfungs-Maßnahmen der Obrigkeit aktuell gewordenen Räuberstoffes bemächtigt. Der Freiheitsdrang des jungen SCHILLER lässt ihn in seinem Jugenddrama das “Kolossalische” des Verbrechens darstellen, die Gestalt des Sonnenwirtle im „Verbrecher aus verlorener Ehre” hat das psychologische Interesse des ehemaligen Mediziners gereizt. Aber nicht nur ein Großer wie SCHILLER, auch mancher Kleine fühlt sich von der vermeintlich so romantischen Welt eines freien Räuberlebens angezogen.
    Goethes Schwager, AUGUST CHRISTIAN VULPlUS, verfasst den Roman “Rinaldo Rinaldini” und schafft darin die romantisch-verlogene Operngestalt eines Räubers von unbeschreiblichem Edelmut. Das Buch ist für den modernen Leser wegen seines unechten Pathos und der Häufung unwahrscheinlichster Abenteuer belustigend zu lesen, aber formal wie inhaltlich ein wertloses Machwerk. Gleichwohl muss es eine geheime Massenneigung seiner Zeit angesprochen haben. Es ist im 18. Jahrhundert ein ausgesprochener “Bestseller” gewesen, dessen Wirkung auf das Bild weiter Kreise vom Räuber kaum abzuschätzen ist.

Die populäre Vorstellung vom Räuber, die dieses Buch und andere seiner Art vermittelt haben, mag noch nachwirken, wenn in unserer Zeit ZUCKMAYER in dichterischer Lizenz aus dem Gauner Schinderhannes eine Art Freiheitskämpfer gegen die französische Besatzung macht. Ähnlich hat neuerdings ELWEN-SPOEK in seiner übrigens fesselnd und amüsant geschriebenen Lebensbeschreibung des Schinderhannes [gehört nicht eigentlich zu den hessischen Räubern. Er ist auf hessischem Boden als Räuber nur zweimal in Erscheinung getreten und kann nur bedingt deshalb hierher gerechnet werden, weil er in Miehlen in der Niedergrafschaft Katzenelnbogen geboren und aufgewachsen ist.] aus dem etwas schmierigen, jugendlichen Gauner von recht kleinem Format in psychologisierender Betrachtungsweise gar so etwas wie einen trotz kleiner Fehler typischen Vertreter rheinischen Volkstums, eine Art liebenswürdigen Eulenspiegel, der allein durch die Schuld der bösen Umwelt entgleist sei, zu machen versucht. Die historische Wirklichkeit hat mit alledem, auch mit den Schöpfungen SCHILLERS, nichts zu tun.

  1. Bedeutung, Organisation, Arbeitsweise und Wesensart der alten Gaunerbanden sind schon anderwärts eingehend beschrieben. An zeitgenössischen Darstellungen sind hervorzuheben der bereits mehrfach zitierte „Abriss des Jauner- und Bettlerwesens in Schwaben” des Oberamtmanns SCHÄFFER von Sulz am Neckar, dessen Aufzeichnungen weit über den schwäbischen Raum hinaus Bedeutung haben, ferner das auf Grund der nachgelassenen Aufzeichnungen des um die Verbrechensbekämpfung hochverdienten Kölner Staatsanwalts KEIL geschriebene Werk des Kölner Tribunalrats BECKER “Rheinische Räuberbanden”, in dem BECKER auch seine eigenen richterlichen Erfahrungen in der Bekämpfung des Gaunertums verwertet und das zu seiner Zeit ein vielgebrauchtes Handbuch für die tägliche Gerichts- und Polizeipraxis gewesen ist. Aus diesen Werken vorzugsweise hat auch RADBRUCH in seiner leider skizzenhaft gebliebenen, posthum von seinem Mitarbeiter und Schüler GWlNNER herausgegebenen “Geschichte des Verbrechens” geschöpft. Ebenfalls Handbücher für den praktischen Behördengebrauch sind die im Quellenverzeichnis erwähnten „Aktenmäßigen Darstellungen” von GROLMANN, BRILL, PFISTER und SCHWENCKEN (die Verfasser sind sämtlich Polizei- oder Gerichtsbeamte, die um 1800 in der praktischen Verbrechensbekämpfung gestanden haben) gewesen. Diese Darstellungen beziehen sich speziell oder mindestens auch auf den hessischen Raum. An zusammenfassenden, systematischen, wissenschaftlichen Darstellungen gibt es nur das Werk von AVE LALLEMANT über das deutsche Gaunertum, das auch heute, über 100 Jahre nach seinem Erscheinen, ungeachtet mancher Irrtümer im Einzelnen, das grundlegende Werk über das Gaunerwesen geblieben ist. Auf diese Darstellungen, die auch hier benutzt sind, kann im Wesentlichen verwiesen werden. Was in den genannten Werken allgemein gesagt ist, gilt auch für Hessen. Um aber das Bild der hessischen Verhältnisse nach dem Dreißigjährigen Krieg bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts anschaulich werden zu lassen, sei zusammenfassend aus den genannten Unterlagen wiedergegeben:

Die zahlreichen Banden, die nach dem Dreißigjährigen Krieg überall in deutschen Landen in Erscheinung treten [SCHÄFFER 22 nennt für Württemberg Ende des 18. Jahrhunderts eine Zahl von rund 2700 der Polizei bekannten Dieben und Räubern, SCHWENCKEN nennt für die Zeit zwischen 1800 und 1815 rund 1800 namentlich bekannte Gauner allein in Hessen.], zahlen meist zwischen etwa 50 und 300 Köpfe. Fast nie jedoch zieht die gesamte Bande geschlossen auf Raub aus, weil das viel zu auffällig wäre. Zwar kennen sich alle Mitglieder der Bande und stehen untereinander in Zusammenhang. Aber meist sind an einem Raub nur etwa 10 – höchstens 30, 40 Bandenmitglieder in wechselnder Zusammensetzung beteiligt. Dabei kennen die deutschen Räuberbanden im Unterschied besonders von denen auf dem Balkan und in Italien keine feste militärähnliche Organisation mit einem ständigen Hauptmann mit unbedingter Befehlsgewalt an der Spitze. Die deutschen Banden sind lockerer organisiert [AVE LALLEMANT I, 91, SCHÄFFER 225, PFISTER 199] dadurch allerdings auch schwerer fassbar. Zwar gibt es in jeder Bande bestimmte Haupträuber, die durch besondere Kühnheit oder Erfahrung Ansehen genießen und denen man daher gern bei der Ausführung einer Aktion den Oberbefehl überlässt. Aber diese Führerrolle ist kein ständiger Posten – er ist erledigt, wenn die Aktion beendet ist, und beim nächsten Unternehmen kann aus irgendwelchen Gründen die Führung einem anderen zufallen. Die Haupträuber, die “Bahnherren” (von Rotwelsch “Bahn” für Straße) oder “Balmasematten” [Jiddisch, wörtlich “Geschäftsherr”; GÜNTHER 18], wie sie sich selbst nennen, pflegen gern als große Herren aufzutreten, die an dem zur Ausführung eines Raubes verabredeten Sammelplatz zu Pferde oder in einer Kutsche erscheinen, während das gewöhnliche Räubervolk zu Fuß dorthin marschieren muss. Neben “Bahnherren” und gewöhnlichen Räubern gehören zur Bande die ,Jungens”, die Rekruten des Berufsverbrechertums. Um die Bande herum existiert ein großer, zahlenmäßig nicht erfassbarer Kreis von nur lose mit der Bande zusammenhängenden “Kochemern”, eigentlich „Kluge” [GÜNTHER 17], das sind Wissende, Vertraute, Eingeweihte, die die Bandenmitglieder beherbergen, ihnen Schutz und Obdach geben – sie mit Verpflegung, Waffen und Schießbedarf versorgen, für sie als „Baldower”, Ausspäher von Diebstahlsgelegenheiten, und als “Scherfenspieler”, das sind Hehler, bei denen man die “Sore”, das Diebesgut, verwerten kann, tätig sind. Die Gauner bezeichnen sich auch selbst als “Kochemer”. Den Gegensatz bilden die “Wittischen”, die dummen, ehrlichen Leute. Da die deutschen Banden keinen ständigen Hauptmann kennen, ist der landläufige Sprachgebrauch, der etwa von einer “Bande des Schinderhannes” usw. spricht, nur bedingt richtig. Die Banden selbst nannten sich nie nach irgendwelchen Anführern, sondern nach den Gegenden, die ihnen zwischen ihren oft weit ausgedehnten Raubzügen als Ruhequartiere, besonders in Winterszeiten, Operationsbasis und – in einer scheinbaren Sesshaftigkeit – als zeitweiliger Aufenthalt dienten, die Vogelsberger, Neuwieder usw. Bande. An ihrem jeweiligen Aufenthaltsort legten sie Wert darauf, als ärmliche, aber bescheidene und ehrbare Bürger zu gelten, denen man unbedenklich einen Reisepass ausstellen konnte. Sie litten es deshalb auch nicht, wenn in ihrem Bezirk fremde Gauner auf eigene Faust ihrem Gaunerberuf nachgingen. Um die kriminelle Quelle ihrer Einkünfte zu tarnen, legen sie sich gern ein kleines Gewerbe zu, das im Umherziehen auszuüben ist, was gleichzeitig einen Vorwand für häufige Abwesenheit vom Wohnort bietet.

Die alten Gaunerlisten enthalten eine Fülle solcher ambulanter Gewerbe, auf deren Vertreter die Polizei ihr Augenmerk richten solle, da es sich häufig um Gauner handele: Wandermusikanten, Bärenführer, Schausteller, Händler mit Textilien, irdenen Waren oder Zunder zum Feueranmachen, Zinngießer, Kesselflicker, Viehkastrierer, Hörnerbeuger, Maulwurfsfänger, Korbmacher, Lumpensammler, Bürsten-, Kamm-, Knopf- und Schnallenmacher. Die Waren, mit denen sie herumziehen, sind durchaus nicht immer Bettelkram. Oft tritt der Gauner in der Maske eines gutgekleideten, wohlhabenden Kaufmanns auf, der Waren, etwa kostbare Stoffe, im Werte von mehreren tausend Talern, mit sich führt [s. Hildburghäuser Prot. S. 25, SCHÄFFER 173]. Natürlich handelt es sich dann nicht um redlich erworbenes Gut, sondern wohl regelmäßig um anderswo gestohlene Sachen. Nach der Aussage eines verhafteten Gauners in den “Hildburghäuser Protokollen” sind fast sämtliche ambulanten Handler im Lande “kochem”, stecken also mit der Bande unter einer Decke [s. Hildburghäuser Prot. S. 44].

Eine Spezialisierung, wie sie sich bei modernen Berufsverbrechern findet, gibt es noch nicht. Der Taschendieb bricht auch ein, der Betrüger beteiligt sich auch an Straßenraub. Was an weiblichen Wesen zur Bande gehört, hat mit der romantischen Klischeevorstellung von der attraktiven, im Grunde nicht unedlen “Räuberbraut” wenig gemein. Die weiblichen Mitglieder sind regelmäßig die unglücklichsten und elendesten Geschöpfe der Bande. Sind sie einmal in dieses Milieu hineingeraten, ist ein schnelles Absinken auf die unterste Stufe der Prostitution unvermeidlich; sie sind Sklavin und Packesel eines „rohen, häufig trunksüchtigen Kerls, geschätzt solange sie jung und kräftig sind, aber schnell verstoßen und damit dem Elend ausgeliefert, sobald sie aus irgendeinem Grunde lästig werden. Mitunter werden zwischen männlichen und weiblichen Bandenmitgliedern Ehen geschlossen; das dient aber vorzugsweise dazu, bei polizeilichen Kontrollen einen möglichst ehrbaren Eindruck zu machen. Respektiert wird diese Bindung nie, meist herrscht in der Bande Promiskuität. Die Weiber haben im Übrigen die Aufgabe, für den Unterhalt der Bande zu betteln, nach Gelegenheit zu stehlen, in den Dörfern das sogenannte “Kaspern”, das ist betrügerisches Wahrsagen, zu üben und dabei zu baldowern. BRILL [BRILL 25] und PFISTER [PFISTER 209 ff] halten die zur Bande gehörigen Weiber für gefährlicher als die Männer. Wenn die Letzteren in Haft säßen, gesellten sich die Weiber einem anderen zu und machten diesen bald zum vollkommenen Dieb und Räuber, wenn er bis dahin noch keiner gewesen sei. Kriminalpolitisch sei daher zu erwägen, niemals die Männer allein, sondern grundsätzlich auch die zugehörigen Weiber einzusperren (auch wenn diesen nichts Bestimmtes vorgeworfen werden könne).

BRILL [BRILL 26] zitiert in diesem Zusammenhang das Bekenntnis des Gauners Johann Martin Rupprecht, vulgo Hessen-Martin: “Ich war, wie ich noch mein erstes Weibsbild, eine gewisse Windstrumpfin [SCHWENKENSCHE Liste Nr. 1160], hatte, zwar auch ein Dieb, aber durch Porzellanhannnes’ Gretchen [SCHWENKENSCHE Liste Nr. 1094a] bin ich ein rechter Spitzbube geworden.”

Die Rolle der weiblichen Bandenmitglieder als Packesel charakterisiert ein Gaunerlied aus dem Vogelsberg vom Anfang des vorigen Jahrhunderts, das zugleich ein Beispiel gaunerischer “Poesie” geben mag (zitiert nach Grolmann 601):

Wenn de Kaffer schuppen holchen
müssen de Schickse ihnen folgen.
Bringen de Kaffer die Sore herbei,
schleppen’s de Schickse vom Emmes zum Bayes hinein.

Zu deutsch:
Wenn die Männer stehlen gehen,
müssen die Mädchen ihnen nachfolgen.
Bringen die Männer die Beute an,
müssen die Mädchen sie vom “Emmes” [d. i. der Sammelpunkt für die Bandenmitglieder nach der Ausführung eines Raubes] zum „Bayes” [d. i.
eine Gaunerspelunke] hinschleppen.

Die Kinder der Bande betteln, stehlen und baldowern gleichfalls. Sie wachsen in völliger Verwahrlosung auf und bilden eine unerschöpfliche Nachwuchsquelle für die Bande. Ihre Erziehung beschränkt sich darauf, sie zu Gaunern heranzubilden. Dabei werden sie einer harten Ausbildung in ihrem künftigen “Beruf” unterworfen. Bei dem erst 14 Jahre alten “jungen Dieb” der HiIdburghäuser Protokolle fällt im Verhör auf, dass an beiden Händen die ersten Daumenglieder völlig deformiert sind. Auf Befragen gibt der Verhaftete an, das komme von seiner Ausbildung. Ihm und anderen jugendlichen Mitgliedern der Bande habe man wiederholt Daumenschrauben angelegt und diese hart angezogen, damit sie sich an dieses Gefühl gewöhnten und gegebenenfalls später im Verhör nicht weich würden [Hildburghäuser Prot. S. 23/24].

So tückisch, grausam und gemein, wie die Gauner gegenüber den “Wittischen” sind, benehmen sie sich auch gegeneinander [BECKER II, 8]. Begriffe wie Ehrlichkeit, Treue oder Kameradschaft wenigstens gegenüber dem Genossen, sind ihnen unbekannt. Was sie zusammenhält, ist das gemeinsame Schicksal, die Interessengemeinschaft der gemeinsamen Abwehrhaltung gegenüber der feindlichen bürgerlichen Gesellschaft und die Furcht vor der Rache der anderen Bandenmitglieder, wenn einer etwa Verrat üben wollte oder bei der Verteilung der Beute zu betrügen versuchte. Diese Rache konnte entsetzlich sein. GROLMANN [GROLMANN 246] schildert z. B., wie der “Hundsvelten”, ein Vogelsberger Räuber, auf dem Wannhof bei Ulrichstein, weil er bei der Beuteteilung „untergemakelt“, das ist betrogen, hatte, von vier seiner Genossen in bestialischer Weise mit Messern buchstäblich abgeschlachtet wird.

Die Banden haben eine oft erstaunlich schnelle Beweglichkeit, die sie heute hier und morgen an einem viele Kilometer entfernten Ort auftreten lässt. Die einzelnen Räuber wechseln häufig zwischen verschiedenen Banden hin und her, so dass eine bestimmte, dauernde Zuteilung eines Räubers zu einer Bande nicht immer möglich ist.

  1. Eine andere Eigenheit der Gauner ist noch hervorzuheben. Vielfach verbreitet sind unter ihnen abergläubische Bräuche, durch deren
    Übung man das Gelingen eines Raubzugs zu befördern oder sich selbst vor Nachstellungen zu schützen hofft. Zu den grausigsten Verirrungen dieser Art gehört der Gebrauch von sogenannten “Diebskerzen”, die aus den Fingern ungeborener Kinder oder aus Menschenfett gefertigt werden. Sie brennen mit geheimnisvoller, blauer Flamme, können gegen den Willen des Besitzers nur durch den Scharfrichter oder nur durch süße Milch gelöscht werden und zeigen entweder an, ob alle Hausbewohner schlafen oder schläfern sie ein, mitunter machen sie auch den Träger unsichtbar [Handwörterbuch des Aberglaubens H, 229]. Auf das Vorkommen dieses Brauchs in Hessen noch zu Anfang des 18. Jahrhunderts lässt im Prozess gegen die Zigeunerbande des “Großen Galantho” (über ihn s. unten) die Aussage des Zigeuners Hemperla [WEISSENBRUCH 129] schließen. Dieser erwähnt dort den in “Wehrum (Wehrheim, Kr. Usingen?) begangenen Mord an einer schwangeren Frau, der man den Leib aufgeschnitten habe, um in den Besitz der abgeschnittenen Hände des Kindes zu gelangen. Der Täter soll nicht etwa ein Mitglied der Bande, sondern ein Landreiter, also ein ländliches Polizeiorgan, gewesen sein.

Auch ein hessischer Autor, GRIMMELSHAUSEN, bezeugt den Gebrauch solcher Diebskerzen [GRIMMELSHAUSEN, Vogelnest 82, 85], an der gleichen Stelle ist der auch heute noch von Berufsverbrechern geübte Brauch erwähnt, seinen Kot im Hause des Beraubten zurückzulassen, ein Abwehrzauber, der einen sicheren Rückzug gewährleisten soll [Handwörterbuch des Aberglaubens Il, 435].

Einen Fall dieser Art berichtet auch GROLMANN [GROLMANN 409] bei einem Kirchenraub Vogelsberger Gauner in Herren-Haag bei Büdingen. Sicher ist es nicht der einzige Fall, in dem dieser Brauch geübt worden ist. AIs etwas Besonderes erwähnt wird das hier wohl nur, um die Verrohtheit und völlige Schamlosigkeit der Gauner mit einem Beispiel zu belegen: Ort der Handlung ist eine Kirche, deren Altar auf diese Weise entweiht wird, und ein weibliches Bandenmitglied beteiligt sich gemeinsam mit den Männern an dem Vorgang.

Ein auf die Söldner des Dreißigjährigen Krieges zurückgehender abergläubischer Brauch ist die sogenannte Passauer Kunst, deshalb so genannt, weil sie 1611, als Erzherzog Matthias von Osterreich bei Passau Kriegsvölker sammelte (s. GRILLPARZER: Ein Bruderzwist in Habsburg) von einem Passauer Scharfrichter, nach anderer Lesart von einem Passauer Studenten, aufgebracht worden sein soll [Handwörterbuch des Aberglaubens VI, 1495]. Sie besteht darin, dass man am Leibe einen mit gewissen Zaubersprüchen beschriebenen Zettel trägt, wodurch der Träger kugelfest werden soll. In etwas abgewandelter Form wird der Brauch 1725 in Hirzenhain im Vogelsberg von der bereits erwähnten Zigeunerbande des Großen Galantho geübt, ehe die Bande zur Ermordung des ihr verhassten Landleutnants Emmeraner auszieht. Die Zigeuner erpressen von dem Gastwirt in Hirzenhain einen Krug Branntwein, den sie mit Salz und Schießpulver würzen. Dann macht der Krug die Runde, wobei sie mit dem Branntwein mit Zaubersprüchen beschriebene Papierkügelchen hinunterschlucken [WEISSENBRUCH 61].

Auch das Blut als vermeintlicher Sitz der Seele und der Lebenskraft des Menschen spielt in den abergläubischen Bräuchen eine Rolle. AIs 1753 in Hildburghausen, wie schon oben erwähnt, ein jugendliches Mitglied der Bande des Krummfingers-Balthasar (über diesen s. u.) in Haft sitzt erzählt der Gefangene im Verhör u. a.: Er und andere jugendliche Mitglieder der Bande hatten Kügelchen aus getrocknetem Menschenblut und gedörrte Partikel von menschlichen Herzen zu essen bekommen; davon sollten sie kühn und herzhaft werden [Hildburghäuser Prot. S. 23/24].

Dass das rohe und primitive Volk der Gauner solchen Vorstellungen anhängt, kann kaum wunder nehmen, wenn man sieht, dass auch Richter und Beamte jener Zeit von abergläubischen Vorstellungen keineswegs frei sind, was nicht nur für Hexenprozesse, sondern auch für gewöhnliche Kriminalsachen gilt. Das zeigt ein Fall aus der Marburger Gegend von 1603: Mit der Vorstellung vom Blut als Sitz der Lebenskraft, die auch im toten Körper noch fortwirkt, hängt der schon im Nibelungenlied erwähnte Brauch der Blutprobe oder des Bahr-Rechts zusammen. Er gilt als Mittel, einen des Mordes Verdächtigen zu überführen. Ist der Verdächtige wirklich der Täter, so beginnen die Wunden des Ermordeten erneut zu bluten, wenn man den Verdächtigen an die Leiche führt. Das Blut empört sich gegen den Mörder [Handwörterbuch des Aberglaubens III, 1046 ff.]. Schon die constitutio criminalis Bambergensis von 1507 hatte den Brauch verworfen, auch die constitutio criminalis Carolina und die constitutio criminalis Philippina tun seiner unter der Aufzählung tauglicher Beweisanzeichen keine Erwähnung. Gleichwohl wird er noch 70 Jahre nach dem Erlass der c. c. Ph. angewandt und ist in Resten wohl auch noch länger geübt worden. Bei einem Raubmord 1603 in Niederwetter wird der Mordverdächtige in Gegenwart von Schultheiß, Schöffen und Fiskal an die Leiche der Ermordeten geführt. Dass die Stichwunde der Leiche in diesem Augenblick einige Tropfen Blut (oder Blutwasser) absondert, wird als schwerwiegendes Indiz gegen ihn vermerkt [StAM Bestand 260 Paket 17: Kriminalprozess gegen Heinrich Voigt von Hünfeld wegen Bigamie, Ermordung seiner Ehefrau und Raub].


VI.
  1. Erst um 1700 haben sich die deutschen Staaten von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges soweit erholt, dass die Staatsgewalt an eine umfassende und systematische Bekämpfung des Räuberunwesens gehen kann. Dabei ergaben sich Schwierigkeiten in verschiedener Hinsicht.

Die strafrechtliche Reaktion des Mittelalters gegenüber dem Verbrecher war eine “blinde, instinktmäßige, triebartige, durch Zweckvorstellungen nicht bestimmte Reaktion der Gesellschaft gegen äußere Störungen der Lebensbedingungen des Einzelnen wie der vorhandenen Gruppen von Einzelindividuen” gewesen. (Franz von Liszt, zitiert nach EBERHARD SCHMIDT 365). Die Erfolge der Verbrechensbekämpfung sind entsprechend negativ gewesen. Zweckgedanken, zunächst generalpräventiver, dann im Staat des aufgeklärten Absolutismus unter dem Einfluss von Naturrecht und Aufklärung auch spezialpräventiver Art, setzen sich in der Folge nur ganz allmählich durch. Im Großen und Ganzen sah man auch das Gaunerwesen noch als ein allein juristisches, mit gerichtlichen und polizeilichen Mitteln zu lösendes Problem an. Nur zögernd greift die Erkenntnis Platz, dass das Problem neben der selbstverständlich vorhandenen juristischen auch eine soziale und erzieherische Seite hat. Das zeigen die oben erwähnten landesfürstlichen Verordnungen und Edikte ebenso wie das Festhalten an kriminalpolitisch zweckwidrigen Maßnahmen (Verstümmelungsstrafen, Brandmarkung, Landesverweisung und ähnliches). Erste Anfänge einer Differenzierung zwischen unverbesserlichen und erziehungs- und besserungsfähigen Tätern und Versuche einer Verbrechensvorbeugung durch erzieherische Maßnahmen zeigen sich auch in Hessen mit den Anfängen einer Freiheitsstrafe im modernen Sinn. Die gefängliche Verwahrung im Mittelalter (soweit es sich nicht um Untersuchungshaft handelte) war entweder nur eine andere Art körperlicher Peinigung oder es hatte sich um Beugestrafen wegen Ungehorsams gehandelt oder um die Sühne geringer Vergehen, Strafen, die mit dem Besserungszweck der Freiheitsstrafe durch Arbeit und Disziplin nichts zu tun hatten [S. dazu HIS 556 ff, über die mittelalterlichen und späteren Freiheitsstrafen allgemein STRENG aaO].
Anfang des 17. Jahrhunderts wird unter dem Einfluss des holländischen Calvinismus, der seinerseits von England angeregt ist, durch Landgraf Moritz die erste Anstalt in Kassel errichtet, die einem anderen Geist zu dienen bestimmt ist [über Kasseler Gefängnisse s. HOLTMEYER 573 ff]. 1618 (nach ROMMEL: Geschichte von Hessen VI, 628 im Jahre 1617) wird das – 1674 abgerissene – Zuchthaus in der Schäfergasse gegründet. Es ist wohl noch nicht ganz das gewesen, was man sich unter einem modernen Zuchthaus vorstellt, sondern hat in erster Linie korrektionellen Zwecken (Erziehung verwahrloster Jugendlicher und damit der Verbrechensprophylaxe) gedient.

Auch das 1720 am Zuchtberg von Landgraf Carl erbaute Zuchthaus (dessen Ruine heute noch zwischen Altmarkt und Fulda vorhanden ist) ist in erster Linie Erziehungsanstalt, daneben Strafhaus für geringfügigere Vergehen (Bettler, geringe Diebe, bei denen auf Besserung zu hoffen) gewesen. Dass man den Resozialisierungszweck im Auge behält, zeigt die Zuchthausordnung Landgraf Carls [HLO III, 833], in der es heißt, das Haus solle „so viel möglich mit Ehr und Respekt behandhabt werden, damit keine Infame oder so unter des Nachrichters Hand gewesen, hineingenommen.“ Erst Ende des 18. Jahrhunderts wird das Haus zur reinen Strafanstalt für Kriminelle. Die eigentlichen schweren Kriminellen kamen sonst in das 1639 abgerissene Stockhaus am „Ehrenpreis“ (genaue Lage unbekannt) und seit 1747 in das von Friedrich I. gegründete, 1823 abgerissene Stockhaus am Neuen Tor, das der Verwahrung der „in die Eisen Condemnierten“ diente [Über die differenzierende Behandlung der – von Rechts wegen infamen – Eisengefangenen erster Klasse und der — nicht infamen — zweiter Klasse s. VO. vom 12. 5. 1747 = HLO IV, 952]. Lebenslänglich Verurteilte oder zum Tode Verurteilte bis zur Hinrichtung kamen vor 1772 noch in den Druselturm, während das Kastenalsgefängnis und das Gefängnis am Leipziger Platz (Unterneustädter Kirchplatz, an der Stelle der heutigen „Elwe“) als Untersuchungshaftanstalt dienten. Alle diese Versuche, den Strafvollzug so zu gestalten, dass eine Resozialisierung des besserungsfähigen Täters nicht ausgeschlossen wird, bleiben aber nach Mitteln und Methoden noch so unzureichend, dass oft das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt wird. Gegenüber landfremden vagierenden Gaunern bleibt man im übrigen im Wesentlichen bei den alten Methoden. Das gilt auch noch für Erwägungen, die im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zum Zweck der Verbrechensbekämpfung angestellt werden. 1788-93 erstatten die Regierungen in Kassel, Marburg, Hanau und Rinteln Voten über die Frage, wie der Eigentumskriminalität beizukommen sei [StAM Bestand 5/12003]. Die Gutachten hören sich zum Teil recht vernünftig und fast modern an: Es werden vorgeschlagen: Verbesserungen des Schulwesens (und in diesem Zusammenhang Erhöhung der Lehrerbesoldung, die auch tatsächlich erfolgt ist), Arbeitsbeschaffung zur Verhinderung des Bettels, Überwachung der Eltern bei der häuslichen Erziehung ihrer Kinder und ähnliches. Alle diese Maßnahmen beziehen sich aber auch jetzt noch nur auf Einheimische und auf „geringe” Diebe, während gegen vagierende, landfremde Gauner nach wie vor mit der äußersten Härte vorgegangen werden soll. Sie werden nach wie vor unterschiedslos als unverbesserliche Berufsverbrecher behandelt. Die Erkenntnis, dass mit den alten strafrechtlichen und polizeilichen Methoden allein, insbesondere mit der Landesverweisung, dem Problem nicht beizukommen ist, fehlt noch. Man beschränkt sich darauf, an den Symptomen herumzukurieren. Das ist das eine große Hemmnis, welches durchgreifenden Erfolgen in der Bekämpfung der Gauner entgegensteht.

  1. Die staatliche Zersplitterung des Deutschlands jener Zeit ist ein anderes schweres Hemmnis auf dem Weg zu einer umfassenden energischen Verbrechensbekämpfung. Dabei spielt einmal die Vielzahl der Ländergrenzen eine die Verfolgung vagierender Verbrecher erschwerende Rolle. Der Verbrecher kann sich leicht über die nächste Grenze in Sicherheit bringen. Der schwerfällige Notbehelf zwischenstaatlicher Vereinbarungen, mit dem an diesem Missstand abzuhelfen sucht, funktioniert nicht immer in befriedigender Weise.
    Am 12.10.1748 berichtet der Reservatenkommissar Keßler aus Eschwege [StAM 17 II Nr. 1907: Acta, die zu Rüstungen auf dem Eichsfeld sich aufhaltende Diebesbande betreffend], in Rüstungen auf dem Eichsfeld halte sich zurzeit eine etwa 30 Kopfe starke Gaunerbande auf, darunter Eheweib und Sohn des „Lahmen Leonhard” (der sich kürzlich im Allendorfer Gefängnis erhängt habe) und der berüchtigte “Jäger mit dem langen Dachsrantzen”, Es ist der größere Rest einer Bande, von der man einen Teil – 6 Männer – schon im Hessischen dingfest gemacht und in Kassel gefänglich verwahrt hat. Am 21.10. 1748 wird die Kurmainzische Kanzlei in Heiligenstadt durch die Hessische Regierung von dem Auftreten der Bande benachrichtigt. Heiligenstadt erwidert am 27.10.1748, die Bande sei in Rüstungen schon nicht mehr anzutreffen, sie bleibe nie lange an einem Ort, deshalb erübrigten sich gemeinsame Maßnahmen. Als die Bande sich im Februar 1749 wieder im Eichsfeld bemerkbar macht, wird eine größere Streifung im hessischen Grenzgebiet nach den Gaunern gemeinsam mit den Mainzischen Behörden und denen von Sachsen-Eisenach beschlossen. Dazu sollen Bauern, Förster und Landmiliz aufgeboten werden. In Hessen werden die Reservatenkommissare in Witzenhausen, Ratenburg und Eschwege angewiesen, zwei Tage vor dem geplanten Beginn der Aktion (14.02.) die Werraübergänge besetzen zu lassen und Fischerkähne und ähnliche Übersetzmittel für die Dauer der Streifung einzuziehen. Die Kommissare der genannten Ämter und der von Bovenden für die Herrschaft Plesse soIlen in ihren Bezirken die Streifung leiten und ihre Maßnahmen mit Mainz und Sachsen-Eisenach abstimmen. Auf Anordnung der General-Kriegskommission sollen von den Garnisonen in AlIendorf, Eschwege, Witzenhausen, Wanfried und Rotenburg je ein Offizier und 20 Mann Infanterie, außerdem vom Dragonerregiment von Gräffendorff ein starkes Kommando Kavallerie zur Verfügung gestellt werden.

Das Ergebnis ist gleich null. Allein bei Eschwege werden zwei Landstreicher aufgegriffen, sonst ist von Gaunern weit und breit nichts zu sehen. Der Reservatenkommissar von Witzenhausen muss berichten, dass jedenfalls in seinem Grenzabschnitt von den Mainzer Behörden überhaupt nichts veranlasst worden ist und er von einer Mainzer Unterstützung nichts gesehen hat.

Ähnlich erfolglos verlauft eine Generalstreifung gegen Vagabunden 1746 im nordwestlichen Hessen [StAM 17 II Nr. 1924 betreffend Streifung gegen die Vaganten am DiemeIstrom]. Am 23.12.1745 berichtet der Schultheiß Lucan in Helmarshausen: „…wie das sich einige Zeit her die Zigeuner hin und wider zusammengerottet, welche fast alle mit (anscheinend gültigen) Kasselischen Pässen versehen, weshalb sie absolute wollen aufgenommen werden.” Er habe sie aber aus der Stadt gewiesen und auch den Bauern des Amtsdorfs Langenthal befohlen, keine aufzunehmen …… da aber das Dorf Langenthal an der Paderbornischen grentze lieget und fast keine Woche hingehet, dass sich nicht daselbst von dem bösen Gesindel etwas aufhält, wodurch die Unterthanen zum Langenthal zu … liederlichen Streichen verführet werden, auch wohI gar denselben gestohlene Kleidungsstücke abkaufen“. (Einwohner von Ottbergen im Corveyischen hätten sich schon bei ihm beschwert, dass die Langenthaler in Ottbergen gestohlene Sachen angekauft hatten), so erbitte er Instruktion, wie er sich den Vagabunden gegenüber verhalten solle “maßen zuweilen auf der Grenze zwanzig und mehr Personen des Tags über liegen und allerley böse und liederliche Streiche führen, woran dann der dumme Bauer sein Wohlgefallen hat. Des Nachts aber gehen sie in die Dörfer nach Deisel, Langenthal und Gieselwerder, an welch Ietzterem Ort ich selbsten vor einiger Zeit im Wald mehr aIs dreißig Personen gezehlet, das einem angst und bange wird, allein wohin zu ziehen.”

Darauf erhält am 30.12.1745 der Oberamtmann von der Malsburg in Karlshafen Anweisung, mit den benachbarten Kurbraunschweigischen, Paderbornischen und Waldeckischen Beamten gemeinsam eine Streifung vornehmen zu lassen, wofür ihm Militär zur Verfügung gestellt werden solle. Auch hier arbeitet der behördliche Apparat sehr langsam. Am 04.01.1746 beschließt die Regierung zu Kassel, sich an den Generalmajor von Herda zu wenden, damit er das benötigte Militär zur Verfügung stelle. Das Ergebnis ist wieder völlig negativ. Ehe der schwerfällige Behördenapparat sich in Bewegung gesetzt hat, sind auch hier die Gauner über alle Berge. Nur in Helmarshausen können “sieben große Weibsleuthe und vier Kinder” arretiert werden, die unter Androhung der Auspeitschung, falls sie sich wieder sehen ließen, des Landes verwiesen werden. Im Amt Sababurg hatte die Streifung nicht durchgeführt werden können. Die zur Streifung aufgebotenen Bauern hatten sich zwar anordnungsgemäß in Ödelsheim versammelt, dort aber vergeblich mehrere Stunden auf den Forster Hemmerich aus Heisebeck und den Förster Wetterstein aus Ödelsheim, die ihre Führung hatten übernehmen sollen, gewartet und waren dann unverrichteter Dinge wieder nach Hause gegangen.

Eine noch nachteiligere Auswirkung der deutschen staatlichen Verhältnisse ist es, dass viele unter den kleinen Territorien infolge ihrer Leistungsschwäche zu einer wirksamen Kriminalpolitik nicht imstande sind. Das ist im 17. Und 18. Jahrhundert nicht besser, als es zur Zeit der oben geschilderten Bande des Anton von Pflugk Mitte des 16. Jahrhunderts gewesen ist. Die Zwergterritorien sind in besonderem Maße darauf verwiesen, die einer wirksamen Verbrechensbekämpfung äußerst nachteilige Praxis der Landesverweisung zu betreiben. Ortsfremde, sozial unerwünschte Elemente, bei denen es noch nicht zum Galgen reicht oder denen nichts zu beweisen ist, werden kurzerhand über die Grenze gejagt und vermehren so unvermeidlich die Schar der vagierenden Gauner. Zu mehr, insbesondere zu erzieherischen, fürsorgerischen und sonstigen Maßnahmen, die dem Verbrechen vorbeugen könnten, wie sie im 18. Jahrhundert von größeren und besser entwickelten Staaten schon da und dort versucht werden, oder auch nur zu kräftigen sicherheitspolizeilichen Maßnahmen reicht es bei ihnen meistens nicht. Allerdings tragen auch die größeren Staaten zu dieser Entwicklung bei, indem auch sie auf die Maßnahme der Landesverweisung nicht verzichten. SCHÄFFER [SCHÄFFER 25] führt Ende des 18. Jahrhunderts das Überhandnehmen des Gaunerwesens in Schwaben auf die seit 1781 bestehende Einrichtung des sogenannten Wiener Schubs zurück. Österreich veranstaltet zweimal jährlich, im Frühjahr und Herbst, große Razzien auf vagierende Gauner und schickt die, die keine Landeskinder sind oder denen nichts Rechtes nachzuweisen ist, unter militärischer Bedeckung zwangsweise über die Grenze nach Bayern hinüber. Bayrisches Militär nimmt die Sendung an der Grenze in Empfang und stülpt den ganzen Sack voll unerwünschter Elemente in das benachbarte Schwaben aus. Die zahllosen winzigen Herrschaften, von denen Südwestdeutschland durchsetzt ist, sind außerstande, sich dagegen zu wehren und müssen den unerbetenen Segen über sich ergehen lassen; ihre Polizeikräfte sind zu schwach, um dies er periodisch auftretenden Massen Herr zu werden, so dass man die Gauner laufen lassen muss oder sie allenfalls in das Gebiet des nächsten Herrn weitertreiben kann, der seinerseits auch nicht zu mehr imstande ist als sie weiterzujagen.

Mitunter versuchen die kleinen Territorialherren auch, die Aktionen ihrer größeren Nachbarn gegen die Gauner zu hindern, weil sie darin eine Bedrohung
ihrer Selbständigkeit sehen. Im Jahre 1711 halte der Oberrheinische Kreis beschlossen, dass in allen Gerichten der kreisangehörigen Staaten zur Vertreibung der überhandnehmenden Zigeuner Stöcke mit Warnungstafeln aufgestellt werden sollten mit bildlicher Darstellung der Auspeitschung und Brandmarkung und der Unterschrift “Zigeunerstrafe”. Gegen die Anbringung dieser Schilder durch die hessische Regierung in Gießen in den Gerichten des Vogelsberges wehrten sich die Herren von Riedesel, nicht etwa, weil sie diese etwas naiv anmutende Aktion (es ist kaum anzunehmen, dass die Zigeuner die erläuternde Unterschrift hätten lesen können) für nutzlos hielten, sondern weil sie darin einen Angriff auf ihre – ohnehin nie ganz unangefochtene – Reichsunmittelbarkeit sahen. Sie wollten eigene, Riedeselsche, Tafeln aufstellen. Das ging so weit, dass hessisches Militär aufgeboten werden musste, um die Aufstellung der hessischen Stöcke durchzusetzen [LANDAU IV, 69].

In Hessen wurden bei der Verbrechensbekämpfung die Verhältnisse seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges noch kompliziert durch die Nebenregierung
der Rotenburger Quart in großen Teilen des Landes. Die Hoheitsbefugnisse waren zwischen der Landesherrschaft in Kassel und den Behörden der Quart so aufgeteilt, dass lokale Polizeiangelegenheiten zur Zuständigkeit der letzteren gehören, Fragen der allgemeinen Landessicherheit aber der Kasseler Hauptlinie und Landesherrschaft vorbehalten sein sollten [PFEIFFER, Prakt. Ausführungen II, 475 ff]. Das führt zu einem der Schlagkraft der Verbrechensbekämpfung hinderlichen, ständigen Streit zwischen Kassel und Rotenburg, was zur lokalen Polizei und was zur allgemeinen Landessicherheit zu rechnen sei. Wiederholt entziehen sich die Behörden der Quart von Kassel angeordneten Maßnahmen der Verbrechensbekämpfung. Als 1744 ein Regierungsausschreiben „Vaganten und deren Hinwegschaffung betreffend” [StAM 17 II Nr. 1930] ergeht, das die Bestimmungen über die Außerland-Schaffung des in letzter Zeit häufiger in Erscheinung getretenen Bettel- und Diebsvolks einschärft, verweigert die Rotenburgische Kanzlei in St. Goar die Publikation, da das ein Eingriff in ihre Rechte sei. Es wird Dabei betont, in der Niedergrafschaft gebe es nicht viele Gauner, da der Gouverneur des Rheinfels sehr energisch sei und diese „ohne Verhör und protocollum in den Eisen arbeiten” lasse. Wenige Jahre später machen die Rotenburger erneut Schwierigkeiten. Im August 1750 hatte im ganzen Land durch Dragoner, Husaren und Landmiliz eine Generalstreifung gegen Vagabunden stattgefunden [StAM 17 II Nr. 1932]. Über den Erfolg wird nichts berichtet. Das er gering gewesen sein muss, ergibt sich aus einem Bericht des Amtmanns Beeker von Wanfried vom 23.10.1751 [StAM 17 II Nr. 1909]: Seit einigen Wochen seien vom Sachsen-Eisenachischen und Kurmainzischen Gebiet her ganze Rotten von Diebsgesindel, auch Zigeunertrupps von 20 und mehr Menschen bemerkbar, die sich als Abgebrannte ausgaben und den Leuten unter Drohungen Almosen abpressten. Die Untertanen wagten ihnen nichts zu verweigern oder sie gar festnehmen zu lassen, da “wenn solche Bösewichter etwa wegen nichtausreichender Beweise freigelassen wurden, sie sich an ihnen »revangieren« würden, wie solches im angrentzenden Thüringischen alltäglich geschiehet.” Bei dem Oberst von Capellan in Schloss Lüdersbach hatten die Gauner einen Einbruch verübt und seien mit großer Beute davongekommen. Er fordert Militär an, sonst werde es trotz verstärkter Nachtwachen in den Dörfern nicht besser.

Als Ergebnis dieses Berichts folgt am 31. 10. 1751 Extrakt Geheimen Raths Protokolls, in dem folgende Anordnungen getroffen werden: Sobald sich bei Tage oder Nacht Landstreicher oder Diebe zeigten, sollten die Bauern an die Glocke schlagen und selbige (gemeint sind die Landstreicher) gefangen nehmen und “anhero liefern, gestalten bereits die ordre an die Miliz ergangen, ihnen zu assistieren und, wenn an die Glocke geschlagen wird, ohnverlängt nach dem Dorfe zu jagen.”

Die Regierung in Kassel soll ein Edikt entwerfen, „damit jedermann vor dergleichen Unfug sichergestellet werden möge.“ Darauf ergeht am 16.11.1751 ein Edikt Landgraf Wilhelm VIII., “Obwohl zu Abhaltung und Vertreibung des ins Land sich einschleichenden Zigeuner-, Bettler-, Diebs- und anderen liederlichen Volkes, auch herumvagierenden, herrenlosen, müßigen und verdächtigen Gesindels bereits in annis 1684, 1689, 1698, 1712, 1714, 1719, 1735 heylsame und nachtrückliche Verordnungen … erlassen und deren Beobachtung und Befolgung … 1744 und 1746 allen Beambten … bey unehrenhafter Strafe befohlen … nachdem ab er dessen ohngeachtet durch dergleichen Vaganten, Räuber und Diebesbanden vielerley Schaden, Diebstähle und gewaltsame Einbrüche in unseren Landen verübet … , so ist es nötig, gedachte Verordnungen hierdurch in allem zu wiederholen und deren strenge Befolgung einzuschärfen.“ (Ausweisung verdächtiger, heimatloser Personen, Überwachung von Herbergen und Wirtshäusern, Nacht- und Tagwachen in den Dörfern, Sturmläuten, wenn sich verdächtige Personen zeigen.)

Die Rotenburger Behörden lehnen die Publikation dieses Edikts wiederum ab. Darauf erfolgen am 20.01.01752 im Geheimen Rath weitläufige Deliberationen, ob „wegen unterlassener weiterer Verfügung publication halber der Kantzley zu St. Goar justification zu erfordern und derselben die Befolgung [der Publikationsordre] annoch poenaliter zu injungieren” oder ob man „unter Übergehung der Kantzley publicanda dem Beamten der Niedergrafschaft [gemeint ist der Reservatenkommissar in St. Goar, Regierungsrat Dr. Beza] immediate zuschicken solle.” Man entschließt sich schließlich zu letzterem, was sofort den empörten Protest der Rotenburger hervorruft.

Weit schlimmer noch als Schwierigkeiten dieser Art ist die in der Verwaltung kleiner, reichsunmittelbarer Territorien wie in der adeliger Patrimonialgerichtsherren nicht selten anzutreffende Korruption. Nicht die Herrschaft selbst ist korrupt, aber sie ist wohl oft gleichgültig gegenüber ihrer Aufsichtspflicht oder aus finanziellen Gründen häufig nicht in der Lage, sich qualifizierte und moralisch integre Amtleute und Schultheißen zu leisten.
Diese untauglichen oder schlecht überwachten Beamten sind es, die ihren Dienst nachlässig versehen, aber auch mit den Gaunern gemeinsame Sache
machen, sie gegen entsprechende Abgaben, die in die Tasche der Beamten fließen, in ihren Bezirken aufnehmen und ihnen Reisepässe ausstellen, mit
deren Hilfe sie sich in anderen Ländern frei bewegen können und gegen Entdeckung bei polizeilichen Kontrollen geschützt sind. Mitunter machen sie
sich sogar zu Teilhabern an der Diebesbeute. Für Hessen sollte es Ende des 18. / Anfang des 19. Jahrhunderts von besonderer Bedeutung werden, dass
in dieser Zeit das Gebiet des Fürstentums Wied Stützpunkt und Operationsbasis einer berüchtigten, auch in Hessen mehrfach in Erscheinung tretenden
Bande werden konnte, von der später noch zu reden sein wird. Der eigentliche Herr im Fürstentum Wied war damals ein berüchtigter Hehler, der mit Hilfe
von Bestechungsgeldern die fürstliche Verwaltung völlig in der Hand hatte [BECKER II, 190, PITAVAL 197]. Auch die Verwaltung in der Rotenburger Quart lässt häufig zu wünschen übrig. Die Ämter der Quart galten im 18. Jahrhundert in ganz Deutschland als „Diebesparadies“ [LIEB 103, RADBRUCH 150]. Das bereits erwähnte Edikt vom 24.04.1719 (HLO III, 817) verfügt unter anderem auch, dass „die verdächtigen Passschreiber und Grenzbeamten in der Quart, durch welche sich dergleichen liederliches Gesindel vom Eichsfeld häufig anhero gezogen”, abzulösen und durch zuverlässige zu ersetzen seien. Die Maßnahme hat wenig genützt. Die Landschaft zwischen Meißner und Werra von Sooden-Allendorf bis Vacha (auch das Amt Landeck gehörte zu diesen verrufenen Gegenden, ebenso das Gebiet der 1685 entstandenen Herrschaft Hessen-Philippsthal mit ihrer Abzweigung Philippsthal-Barchfeld) hat ihren bösen Ruf bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts behalten, für jene Zeit mit Recht, wie später zu zeigen sein wird.

  1. Ein drittes großes Erschwernis ist die immer noch ganz unzureichende Organisation der Polizei. In Deutschland gibt es keine Reichspolizei, von der
    eine umfassende Bekämpfung des an Ländergrenzen nicht gebundenen Gaunertums hätte ausgehen können. Die Polizei ist Sache der deutschen Einzelstaaten, aber was diese an sicherheitspolizeilicher Organisation besitzen, ist gegenüber der Massenerscheinung eines fluktuierenden, schnell beweglichen Gaunertums völlig unzureichend. Der ländliche Amtmann hat seinen Landreiter, das ist meist ein altgedienter Husar oder Dragoner, der für spezifisch polizeiliche Aufgaben nicht geschult ist; die Annahme liegt auch nicht fern, dass solch ein alter Soldat diese Tätigkeit fernab von den Augen seines Schwadronchefs häufig als „Druckposten” aufgefasst hat. Nicht selten werden auch begnadigte ehemalige Gauner als Landreiter bestellt, die dann in besonderem Maße der Versuchung ausgesetzt sind, durch die Finger zu sehen. Wenn gelegentlich da und dort ein „Landleutnant” bestellt wird, so ist darin nicht der Führer einer größeren Polizeieinheit zu sehen; Der Landleutnant war wie der einzelne Landreiter auf sich allein, sein Gewehr und sein Pferd angewiesen.
    Der Titel bezeichnet nur die Verantwortung für einen größeren Bereich. Die landesväterliche Fürsorge, die von Handel und Verkehr Störungen durch Polizeischikanen fernhalten möchte, bürdet seinem Ermessen allein die Verantwortung dafür auf, zwischen übergroßer Schärfe und Genauigkeit einerseits
    und Nachlässigkeit andererseits die rechte Mitte zu verfehlen. So heißt es in der Instruktion für Nikolaus Wilhelm Geissen aus Rotenburg an der Fulda
    als Landleutnant (1728) [StAM Bestand 17 II 1929], er solle zwar hinter den Gaunern emsig fahnden, habe dabei aber „die nötige und erforderliche Behutsamkeit und moderation dergestalt zu gebrauchen, dass er niemanden außer genugsamem Verdacht zur Rede stelle, angreife oder gar Gewalt brauche, damit dem commercio so wenig Schaden zugezogen als sonsten die reysende Personen sich zu beschweren keine Ursache haben mögen.” Und ähnlich heißt es, als 1728 wegen zunehmender Klagen über Diebes- und Zigeunerbanden im Fürstentum Hersfeld und im Seulingswald ein Christian Sprieden aus Hannover probeweise als Landreiter angestellt wird: er solle „… mit allem Fleiß verhüten, dass nicht etwan durch übereilte captivierung oder spezialinquisition ein Unschuldiger angetastet und verunglimpfet werde” [Ebda.].

Der begrüßenswerte Zweck solcher Anordnungen, polizeiliche Willkürmaßnahmen hintanzuhalten, muss den Polizeibeamten, der andererseits immer
wieder zu scharfem Durchgreifen gedrängt wird, in eine schwierige Lage bringen (man erinnere sich an den als wohlhabenden Kaufmann getarnten Gauner), was seiner Entschlussfreudigkeit kaum förderlich gewesen sein wird. Sind größere Streifungen nötig, so kommen dafür zunächst die auf Grund der alten Landfolgepflicht dazu aufgebotenen Bauern des Amts in Frage, denen die herrschaftlichen Förster als wegekundige Führer zu dienen haben. Ihre Eignung für diese Art Tätigkeit ist sicher nicht groß gewesen. Am 3.04.1806 klagt die Marburger Regierung in einem Bericht an den Kurfürsten [StAM Bestand 5 (Hess. Geh. Rath) 1153], die Bauern pflegten bei den Streifungen zu viel Lärm zu machen, wodurch die Gauner vorzeitig gewarnt würden und ungesehen verschwinden könnten.

Im Übrigen muss für größere polizeiliche Aktionen militärische Assistenz zugezogen werden. In Hessen werden für solche polizeiliche Aufgaben, soweit nicht die Mitwirkung von Kavallerie sich als nötig erweist, vorzugsweise die Landbataillone („die Miliz”) herangezogen. Aber diese Truppen sind den Zivilbehörden nicht unterstellt, sie müssen jeweils angefordert werden, ein umständliches und zeitraubendes Verfahren, das angesichts der schnellen Beweglichkeit der Banden den Erfolg einer solchen Aktion, wie schon oben an Beispielen gezeigt, von vornherein in Frage stellt. Noch ein weiteres Beispiel zeigt das deutlich.

Am 26.04.1805 sieht sich die Marburger Regierung zu einem Bericht an den Kurfürsten veranlasst wegen der zunehmenden Beunruhigung der Marburger Gegend durch Raubgesindel, das unter dem Druck der scharf zufassenden französischen Behörden vom linken Rheinufer herüberwechsele und unter anderem vor wenigen Tagen mehrere gewaltsame Einbrüche in der Berleburger Gegend begangen habe” [Ebda.]. Die Regierung bittet um ein starkes Kommando Husaren. Anders könnten die Streifungen nicht wirksam gestaltet und könne dem Übel nicht abgeholfen werden. Die Allerhöchste Resolution Serenissimi auf diesen Notschrei lautet: „Soll deshalb nach beendigtem Exerzieren [gemeint sind die Frühjahrsmanöver] Verfügung getroffen werden”.
Ob und wann die Marburger die erbetene militärische Hilfe schließlich bekommen haben, ist aus den Akten nicht zu ersehen. Wenn eine Streifung durch
Husaren stattgefunden haben sollte, muss jedenfalls bald nach dem Abzug der Truppe alles wieder beim Alten gewesen sein. Schon am 03.04.1806 muss die
Marburger Regierung mit dem oben bereits erwähnten Bericht erneut um die Entsendung von Kavallerie nachsuchen: Obwohl — anscheinend der Erfolg einer Streifung von 1805 – zurzeit über 30 Schwerverbrecher wegen der schwersten und grausamsten Verbrechen in Marburg in Haft säßen, seien die Verhältnisse nicht besser geworden. Erst am 26.03.1806 habe eine 20 Köpfe starke Bande (es war der „Alte Drucker“ mit seinen Genossen; über ihn s. unten) abends gegen 9 Uhr im Walde zwischen Löhlbach und Haina den mit Frau und Fuhrknecht vom Markt in Wildungen heimkehrenden eingesessenen Schutzjuden Moses Levi aus Gemünden an der Wohra überfallen, die Überfallenen mit Stricken gebunden und unter grausamsten Misshandlungen den Moses Levi seiner Gelder und seiner Waren im Werte von über 1800 Reichsthaler beraubt. Die Räuber hätten den boshaften Mutwillen so weit getrieben, die drei Opfer des Überfalls gebunden in eine ausgeleerte Warenkiste zu sperren, diese wieder auf den Wagen zu laden und den Wagen mit den Pferden in das Dickicht des Waldes zu treiben. Erst nach Stunden hätten sich die Unglücklichen halb erstickt aus ihrer qualvollen Lage befreien können.
Ob und was von Kassel hierauf veranlasst worden ist, ist aus den Unterlagen nicht zu ersehen. In den Städten liegen die Verhältnisse etwas besser, aber eine für einen überörtlichen Einsatz gegliederte und genügend starke Polizei gibt es auch bei ihnen nicht. Auch hier muss nötigenfalls Militär die Aufgabe, der nicht vorhandenen Polizeitruppe übernehmen.

Die Unzulänglichkeit der polizeilichen Organisation äußert sich mitunter in geradezu grotesken Formen. Als am 5. 7. 1808 bei Steinau/Straße 18 Viehhändler, die vom Markt in Zeitlofs zurückkommen, von sieben Vogelsberger Räubern überfallen werden, wobei es unter den Überfallenen vier Schwerverletzte gibt, und die Räuber eine Beute von über 1500 Gulden machen, erhebt sich ein negativer Zuständigkeitskonflikt zwischen den Ämtern Steinau und Altengronau, weshalb in der Sache selbst überhaupt nichts geschieht [GROLMANN 355].

Nach einem Überfall in der Nacht vom 2. zum 3. 2. 1809 auf zwei vom Gelnhäuser Markt zurückkommende Fuhrleute durch Angehörige der Spessartbande im Walde bei Mittelgründau, bei dem einer der Überfallenen erschlagen, der andere schwer verletzt wird, wird zwar, nachdem der Schwerverletzte sich mühsam in das nächste Dorf geschleppt hatte, am nächsten Morgen vom Amt Meerholz „nach dem Husaren geschickt”. Da der Husar aber zu einem privaten Besuch im Nachbarort ist, sein Pferd überdies lahm sein soll, beschränkt sich der Amtmann auf die Abfassung eines schriftlichen Berichts über die Angelegenheit [PFISTER 113].

Fast unglaublich erscheint der Bericht bei GROLMANN [GROLMANN 573] über den Transport eines verhafteten Vogelsberger Gauners (es ist der sogenannte „Lahme Hannjost” gewesen) nach Gießen durch einen zehnjährigen Jungen, nachdem man zunächst eine alte Großmutter für diese Aufgabe ausersehen hatte. Natürlich kam der Gauner an seinem Bestimmungsort nicht an. Der Vorfall steht aber nicht vereinzelt da. Das zeigt die von MÜLLER [MÜLLER 149] wiedergegebene erheiternde Klage des Marburger Präfekten von Trott im Departementsblatt des Werradepartements von 1810, dass der Maire Schmidt in Aua Kanton Hersfeld und der Maire Diehl von Schwarzenborn Kanton Marburg verhaftete Gauner nicht durch Polizeidiener, nicht einmal wenigstens durch einige handfeste Bauern, sondern durch zu diesem Zweck dienstverpflichtete Mägde hätten abtransportieren lassen. Dass die Gauner an ihrem Bestimmungsort nicht angekommen sind, ist selbstverständlich. Auch BRILL [BRILL 19] klagt darüber, dass häufig Kinder, Greise oder Frauen als Gaunereskorte verwendet würden.

  1. Erfolge in der Verbrechensbekämpfung werden häufig zunichte gemacht durch die auffallend hohe Ausbruchsquote unter verhafteten Gaunern. Fast alle hervorragenden Vertreter des Gaunertums sind während ihrer Laufbahn wiederholt verhaftet gewesen und wieder ausgebrochen, oft unter den abenteuerlichsten Umständen. Die Casselsche Polizey- und Commercienzeitung [https://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/toc/1358331788521/1/-/] bringt fast in jeder Ausgabe Suchanzeigen nach entwichenen Gefangenen.
    Ausbrüche geschehen nicht nur aus kleinen, ländlichen Amtsgefängnissen, sondern selbst aus der Festung Ziegenhain. Neben der Unzulänglichkeit der
    Verwahrungseinrichtungen in kleinen, ländlichen Gefängnissen liegt das an der schlechten Qualität des Bewachungspersonals. Gerichtsdiener und Gefängnisaufseher sind schlecht bezahlt und sozial wenig angesehen. Es haftet ihnen noch der Geruch des Steckenknechts, des mittelalterlichen Henkergehilfen an. Meist entstammen sie derselben sozialen Schicht wie ihre Schützlinge; sie sind deshalb leicht zu korrumpieren und zu gemeinsamer Sache mit den Gefangenen zu bewegen. Die Gaunerlisten des 18. und 19. Jahrhunderts enthalten im Übrigen eine große Zahl von Beispielen dafür, dass Töchter aus Gaunerfamilien Gerichtsdiener oder Gefängniswärter heiraten oder dass Söhne von Gaunern selbst mit dem Amt eines Gefangenenaufsehers oder Gerichtsdieners betraut werden.

Größere Erschütterungen der staatlichen Ordnung wie der Zusammenbruch des Kurstaates 1806 oder der Überfall der Czernitscheffschen Kosaken auf
Kassel im September 1813 führen auch zu Massenausbrüchen. So ermöglicht der Kosaken-Überfall die Entweichung von 171 Schwerverbrechern aus dem
Kasseler Stockhaus, von denen ein großer Teil verschwunden geblieben ist.

Auch die Weiber verstehen es auszubrechen. Am 01.02.1790 meldet die Casselsche Polizey- und Commercienzeitung, dass acht „lüderliche Weibspersonen“ aus dem Kasseler Spinnhaus (am Mühlenplatz in der Unterneustadt) mittels gewaltsamer Durchbrechung der Wand entwichen seien.

  1. Unter den zweckwidrigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Gaunertums, die die Verbreitung der Kriminalität befördern, statt sie zu hemmen, ist noch
    einer seit dem Aufkommen stehender Heere bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts praktizierten Abart der Landesverweisung zu gedenken, der Einziehung sozial unerwünschter Elemente zum Militärdienst. In Hessen beginnt das mit einem Fürstlichen Ausschreiben vom 21. 8. 1703 [HLO III, 504], dass „die Beamten dass sich einschleichende herren- und nahrungslose Gesindel wie auch Müßiggänger, so nichts zu verlieren haben und zum Soldaten tüchtig, unter Anerbietung eines gewissen Anreitzgeldes anzuwerben sich bemühen sollen.” Die Anordnung, die sich nur auf landfremde Personen bezieht, hat sicher auch eine kriminalpolitische Auswirkung gehabt, indem dadurch potenzielle Gesetzesübertreter (als Verbrecher erkannte und überwiesene Leute kamen nicht in Frage) von der Straße wegkamen und in eine strenge Zucht und eine geregelte Beschäftigung gebracht wurden. (Zweckwidrig blieb die Maßnahme gleichwohl, da solche Elemente die Moral der Truppe schädigten, außerdem, da sie weder durch Angehörige noch durch Besitz an den Staat, dem sie dienten, gebunden waren, besonders häufig desertierten und nun erst recht einem unsteten Vagantentum ausgeliefert waren, da sie sich nicht mehr sehen lassen durften.) Jedoch ist der kriminalpolitische Effekt wohl nur eine Nebenwirkung und nicht Absicht und Ziel der Anordnung gewesen. Die zugrunde liegenden Absichten waren vielmehr ökonomischer Art, herzuleiten aus der Gedankenwelt des Merkantilismus: Schonung der Wirtschaftskraft des Landes, indem man möglichst wenig für den Produktionsprozess nützliche Leute der Wirtschaft entzog. Diese ökonomische Erwägung wird deutlich durch den zeitlichen Zusammenhang jenes Edikts mit einem anderen vom 03.05.1702 [HLO III, 505] das sich nur auf Einheimische bezieht und in dem für Werbungen besonders hingewiesen wird auf „Müßiggänger und welche sonderlich nichts zu verlieren haben, wenig oder keine Kontribution zahlen, auch beim Ackerbau gemisset werden können.” Auch diese sollen zum Funktionieren der staatlichen Maschinerie beitragen und sollen das in Form des militärischen Dienstes umso eher, als sie sonst keinen Nutzen stiften. Man erinnere sich, dass für den absolutistischen Staat und sein Wirtschaftssystem das Heer nicht nur Mittel seiner Selbstbehauptung und seines politischen Ansehens nach außen ist, sondern ebenso ein Erwerbsunternehmen gleich seinen Porzellanmanufakturen oder anderen gewerblichen Unternehmen, das, weit entfernt, ein Debetposten in der Bilanz der Staatswirtschaft zu sein, auch zur wirtschaftlichen Stärkung des Staates beitragen soll und beiträgt. Keineswegs ist die Anordnung von 1703 als Zwangs- oder Strafmaßnahme gegen verdächtige, für kriminell gehaltene Elemente gemeint gewesen. Das geht schon daraus hervor, dass die Beamten nicht nur die Leute „mit ihrem [der Leute] guten Willen anzuwerben sich äußerst bemühen sollten” sondern vor allem, dass sie ermächtigt waren, ihnen ein Handgeld von 4 bis 6 Thalern auszuzahlen, das ist etwa das Acht- bis Zehnfache dessen, was der angeworbene oder ausgehobene einheimische Rekrut erhielt, der sich mit 1 Gulden Handgeld begnügen musste [Ausschreiben vom 24.03.1702 = HLO III, 480].

Mit dem Überhandnehmen des Gaunertums zu Ende des Jahrhunderts wird hier allerdings manches anders. Jetzt werden auch Leute deswegen, weil man
sie für Verbrecher hält, denen man nur nichts beweisen kann, gewaltsam zu Soldaten gepresst. Aber inzwischen war man in Hessen nach dem Siebenjährigen Krieg zum preußischen Kantonierungssystem übergegangen. Man übergab jetzt landfremde Leute, die der Zugehörigkeit zum Gaunertum verdächtig waren, lieber preußischen oder kaiserlichen Werbern, die in dieser Hinsicht nicht heikel waren.

In den Akten der Bad Brückenauer Sicherheitskonferenz von 1805 [StAM Bestand 17 g, Gef. Nr. 391 b] (Teilnehmer: Hessen-Kassel, Würzburg, Nassau-Oranien-Fulda, Sachen-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Isenburg und die Reichsritterkantone Rhön/Werra und Mittelrhein) heißt es in § 35 der zusammengefassten Konferenzergebnisse, wo diese Maßnahme, falls das Heimatland eines Vagabunden nicht zu ermitteln ist, erneut empfohlen wird, als Begründung: „Um diesen herren= und geschäftslosen Menschen ein Vatterland und eine angemessene Beschäftigung zu verschaffen.“ Unseren Ohren mag das wie zynischer Hohn klingen, es ist aber sicher rechtschaffen ernst gemeint gewesen.


VI.

Der Kampf, den die Obrigkeit um 1700 gegen das Gaunertum begann, sollte angesichts der beschriebenen Hemmnisse über 120 Jahre dauern und erst enden, nachdem die völlige Umgestaltung aller Verhältnisse Anfang des 19. Jahrhunderts auch die wesentlichen Ursachen des Übels beseitigt hatte.

Im Folgenden soll die Wirksamkeit einzelner hessischer oder zeitweise in Hessen in Erscheinung tretender Banden geschildert werden, die durch die
obrigkeitlichen Verfolgungsmaßnahmen schärfer ins Licht treten. Dabei ist eine erschöpfende Aufzählung sicher nicht möglich und das hier Dargestellte
wird noch mancher Ergänzung bedürftig sein.

  1. Seit 1718 tritt im Vogelsberg und in der Wetterau eine starke Zigeunerbande von über 50 Köpfen auf, die das Land mit Mord und Raub terrorisiert [S. die detaillierte Beschreibung ihres Wirkens und des nachfolgenden Prozesses gegen einen Teil der Bande bei WEISSENBRUCH]. Ihr Hauptmann ist ein französischer Zigeuner, der sich selbst „Großer Galantho” nennt, mit bürgerlichem Namen Antoine la Grave [Über ihn s. KÖSER]. Er war Musketier im Hessen-Kasselschen Bataillon von Meermann gewesen, hatte dann in kurpfälzischen und preußischen Kriegsdiensten gestanden und sich 1720 mit seiner zahlreichen Familie der im Vogelsberg streifenden Zigeunerbande angeschlossen, deren anerkannter Häuptling er in kurzer Zeit war. Ungeachtet dessen hatte er es 1725 verstanden, sich daneben von den kurmainzischen Behörden als Landleutnant anstellen zu lassen, bis man ihm nach einiger Zeit dahinterkam, dass er die Diebe und Räuber, statt sie zu verfolgen, „meyneidiger und schelmischer Weise geheget”. Das Auftreten der Bande ruft die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges zurück. Sie dringen am hellen Tag in die Dörfer ein und stehlen Vieh, Auf Einwohner, die sich zur Wehr setzen, wird rücksichtslos geschossen. Gleich bei ihrem ersten Auftreten im Londorfer Grund gibt es einen Toten und zwei Verletzte unter Bauern, die die Zigeuner daran zu hindern suchen, ihnen die Hühnerställe auszuräumen. Gegen Verfolgungen setzen sie sich entschlossen zur Wehr. So liefert am 08.09.1725 ein Dutzend Bandenmitglieder im Bobenhäuser Wald im Vogelsberg einer 20 Mann starken Militärstreife ein Feuergefecht und entzieht sich so der Festnahme. Am 16.10.1725 fällt ihnen auf der Glashütte in Hirzenhain der Landleutnant Emmeraner, der mit zwei Knechten auf Streife ist, in die Hände.
    Emmeraner versucht vergeblich, die auf ihn eindringenden Zigeuner durch Pistolenschüsse abzuschrecken. Dem einen Knecht und Emmeraner selbst gelingt es darauf zunächst zu flüchten. Der zweite Knecht wird von den Zigeunern auf der Landstraße grausam misshandelt und lebensgefährlich verletzt. Dabei fällt besonders die aktive Teilnahme der weiblichen Bandenmitglieder auf. Eine Zigeunerin Marie Elisabeth, genannt „die Cron“, eine Tochter des Galantho, hat den unglücklichen Knecht „mit einem Beil vielmals auf den Kopf zehacket und ihm sogar das membrum virile ausschneiden wollen.” Anschließend – nachdem die Zigeuner die oben erwähnte „Passauer Kunst” geübt hatten, spürte man den Landleutnant selbst, der sich im Dachgebälk der Glashütte versteckt hatte, auf. Er wird auf die Straße gezerrt und umgebracht. Die Bauern des Ortes standen derweil tatenlos in der Nähe herum und wagten angesichts des bewaffneten Zigeunerhaufens nicht, zu Hilfe zu kommen.

Neben dieser Tat, bei der wohl mehr Rache an einem verhassten Polizeibeamten als Bereicherungsabsicht das Motiv gewesen ist, fallen der Bande eine große Anzahl von Raubmorden, eine größere von gewaltsamen Einbrüchen, verbunden mit schwersten Misshandlungen der Hausbewohner und eine Fülle kleinerer Diebstähle zur Last. Eine dieser Taten, der gewaltsame Einbruch in das Haus des Pfarrers Heinsius in Dörßdorf bei Idstein mit anschließender Ermordung des alten Pfarrerehepaares im Sommer 1725 hat ein Vorspiel von derber Komik gehabt, dass gleichzeitig eine charakteristische Eigenheit vieler Gauner, die animalische Hemmungslosigkeit des Formlos Primitiven, widerspiegelt. Die Zigeuner hatten sich am Nachmittag vor der Tat außerhalb des Dorfes getroffen und sich im hohen Korn versteckt, um in dessen Schutz die Dunkelheit abzuwarten. Dabei wurde dem Zigeuner Lorenz Lampert, der „von dem kurz vorhero zu Hahnstätten gestohlenen Speck und Butter ohne Brot zu viel gefressen“ derart übel, „dass er sich im Korne salva venia greulich bekotzet” [WEISSENBRUCH 71].

Ende 1725 wird schließlich mit großem Militäraufgebot ein Teil der Bande — 28 Männer und Weiber ohne die Kinder — dingfest gemacht und, nachdem
man sie in Gießen „zu nicht geringer Belästigung des fürstlichen fisci über dreiviertel Jahr im Stockhaus in Ketten und Banden aufbehalten hat”, 1726
hingerichtet, die Männer teils gerädert, teils gehängt, die Weiber enthauptet.

Mehr als die Verbrechen der Bande empört den Gießener Oberschultheiß WEISSENBRUCH, der die Untersuchung gegen die Bande geführt hat und dem
wir den genauen Bericht über ihr Wirken verdanken, dass einer der Zigeuner namens Bülau „sich sogar erfrechet, gegen Ulnseres Gnädigsten Fürsten und
Herrn Hochfürstlicher Durchläuchtigkeit Höchste Person, welche doch allerwege inviolable sein sollte, die allerschröcklichsten Drohworte auszugießen” [WEISSENBRUCH 46].

Die Vorrede des WEISSENBRUCHschen Werkes, die die Schärfe des Urteils verteidigen soll (auch soweit es die Frauen betrifft, deren Bosheit noch weit
größer sei als die der Männer), ist charakteristisch für die allgemeine Einstellung der Zeit dem Zigeunerproblem gegenüber. Es zeigt nichts als eine in
blindes Wüten umschlagende Hilflosigkeit, wenn Weißenbruch verbrämt mit einem barocken Wust gelehrter Zitate schreibt [WEISSENBRUCH 7 der Vorrede]: „Es ist ja ohnedem bekannt, dass ein Zigeuner eine solch übel geartete Kreatur sey, die weder durch geringe Straffe sich auf bessere Gedanken bringen lässt, noch, wenn man gleich aus der Jugend etwas Gutes ziehen will, die Zucht annimmt.” Es bleibe daher nichts übrig, „als sie für ihre Missetaten gebührend zu belohnen, da sie keiner Erbarmung außer über ihre Seelen würdig.“

So fragwürdig die im 18. Jahrhundert gegen die Zigeuner angewandten Methoden aber auch allgemein gewesen sind, wird man doch bezweifeln müssen, ob RADBRUCH [RADBRUCH 174] ein glückliches Beispiel gewählt hat, wenn er gerade die Gießener Hinrichtung von 1726 unter den Beispielen für die barbarische Härte der Obrigkeit gegenüber den Zigeunern anführt. Den in Gießen Hingerichteten waren immerhin neben einer Fülle von Delikten minderer Bedeutung elf Morde, z. T. scheußlichster Art, nachgewiesen.

Der Galantho befand sich nicht unter den Hingerichteten. Er war mit einem Teil der Bande der Festnahme entgangen. Den Galantho erwischt man erst 1733, als er in Gelnhausen aus einem Straßenraub herrührendes Silbergeschirr verkaufen will. Er wird nach Darmstadt ausgeliefert und in Gießen gehängt. Andere Angehörige der Bande wurden noch am 23.03.1739 in der Casselschen Polizey- und Commercienzeitung steckbrieflich gesucht wegen zahlreicher weiterer Mord- und Raubtaten, die sie inzwischen im nördlichen Hessen und angrenzenden Kurhannöverschen verübt hatten.

  1. Mit dem Datum des 29.12.1734 meldet die Casselsche Polizey- und Commercienzeitung [Polizey- und Commercienzeitg. 1735 S. 6] unter den Nachrichten über Ein- und Ausgänge an den Kasseler Stadttoren als Zugang: „Ein Kommando vom Leibregiment zu Pferde, so einen Juden mit seiner Frau aus Abterode und eine Judenfrau aus Reichensachsen anhero brachten.” Es waren der sogenannte „Lange Hoyum“” aus Abterode mit seiner Frau und das Eheweib eines Meyer Sprengling (der flüchtig geworden war) aus Reichensachsen. Mit dem „Langen Hoyum“ hatte man das Haupt einer bedeutenden Diebesbande sichergestellt [Über sie RADBRUCH 150. Einzelheiten verdanke ich der Freundlichkeit von Herrn Dr. Friderici].

Was über die Wirksamkeit der Bande aufgedeckt wird, ist ein Beispiel für die bedenklichen Zustände in der Verwaltung der Quart wie in der der benachbarten adeligen Patrimonialgerichte im Werragebiet. Den Anstoß zur Entdeckung der Bande hatte ein in der Nacht vom 08. zum 09.12.1733 in einer Gold- und Silbertressenfabrik in Coburg verübter Einbruch gegeben. Die Beute war beträchtlich gewesen: neben 700 Talern Bargeld Gold- und Silbertressen im Wert von 4400 Reichstalern. Einige mit der Bande in Zusammenhang stehende Personen hatte man schon in Coburg verhaftet. Durch deren Bekenntnisse im Verhör kommt heraus, dass die Bande ihren Aufenthalt in den Dörfern des ostwärtigen Meißnervorlandes hat. Es handelt sich überwiegend um landfremdes Volk ohne Beruf und festen Wohnsitz, dass der Amtmann Hattenbach in Abterode entgegen den bestehenden strengen Vorschriften aufgenommen und seit über einem Jahr gegen Zahlung einer Abgabe in seinem Bezirk geduldet hatte. Dabei hatte er die Anwesenheit dieser Leute gegenüber der Kasseler Behörde verheimlicht, so dass die Vermutung naheliegt, die Abgabe sei in die Privatkasse des Amtmanns geflossen. Ein Bericht des Amtmanns vom 15. 5. 1733 [StAM Bestand 17 II Nr. 1906] erwähnt größere Trupps von Zigeunern, die von den Bauern Almosen erpressten, Von dieser Art Zuzug hatte der Amtmann persönlich vermutlich keine Vorteile zu erwarten. In derselben Weise hatten sich der Gesamtschultheiß der Boyneburger Gerichte an der Werra und der von Eschwegesche Schultheiß in Aue gegenüber den in ihren Bezirken hausenden Mitgliedern der Bande pflichtwidrig verhalten. Eingesessene Bürger waren von den Bandenmitgliedern nur der Schmied von Oetmannshausen, von dem die Bande ihre Brecheisen bezog, und ein wohlhabender und angesehener Mann namens Salomon Michel in Abterode. Letzterer war aparterweise Metallieferant der Hessischen Münze. Die Coburger Beute, soweit sie aus Edelmetall bestand, war, als man Michel entlarvte, längst eingeschmolzen und nach Kassel gewandert, um in gute hessische Taler und Silbergroschen ausgeprägt zu werden.

Die Bande hatte in Kassel einen Treffpunkt in der Herberge zum Weißen Roß. Der Lange Hoyum hatte bei seiner Verhaftung einen bewegten Lebenslauf hinter sich. Er war, in Treuchtlingen geboren, damals 32 Jahre alt, hatte sich mit 16 Jahren taufen lassen und den Namen Johannes Ingolstadt angenommen, Nach Erlernen des Schneiderhandwerks war er anderthalb Jahre gewandert, hatte in Innsbruck und Bozen gearbeitet, war später bei Augsburg von preußischen Werbern aufgegriffen worden und hatte als Füsilier in Halle und Wesel gestanden. Während seiner Dienstzeit hatte er vier- bis fünfmal
Gassenlaufen müssen, war dann desertiert, über Holland und Hamburg nach Deutschland zurückgekehrt und hatte sich vor seiner Festnahme zunächst in
Hoheneiche und dann in Abterode aufgehalten. Der Lange Hoyum und andere in Hessen verhaftete Mittäter wurden nach Coburg ausgeliefert. Sie gestanden
dort den Coburger Raub, außerdem wurden sie einer ganzen Reihe weiterer Straftaten überwiesen, so im Hessischen eines Einbruchs Ostern 1734 in die
Hünfelder Kollegiat-Stiftskirche, bei dem Kultgeräte aus Edelmetall im Gewicht von etwa 14 Pfund gestohlen worden waren und die Gauner in der Sakristei mit den Hostien beschimpfenden Unfug getrieben hatten. Unter der Liste ihrer Taten findet sich ferner 1729 ein Kircheneinbruch in Hannoversch-Münden, 1732 ein großer Silberdiebstahl bei dem Kaufmann Reuffurth in Eschwege, 1733 ein Kirchenraub in Buttlar und 1734 in der Stadtpfarrkirche
in Fulda. Am 26. 10. 1734 hatte die Bande, etwa zehn Mann stark, unter Führung des Hoyum einen nächtlichen Einbruch bei dem Gastwirt Kunkel in Nieste verübt. Als die Täter schwarz maskiert mit brennenden Lichtern eindrangen, waren die Wirtsleute wach geworden. Man hatte sie gewürgt und misshandelt, bis sie ihr Hilfegeschrei (das völlig nutzlos war; keiner der Nachbarn traute sich hinzu) aufgaben, dann hatte man die Frau „unter das Bett gestopffet”. Den Mann hielten die Gauner für tot. Nachdem die Räuber sich an den Bier- und Branntweinvorräten der Wirtschaft gütlich getan hatten, zogen sie mit einer Beute an Bargeld und Silbergerät im Wert von 250 Reichsthalern ab. Auf dem Meißner wurde während des Rückmarsches die Beute geteilt.
Der Lange Hoyum und einer seiner Mittäter wurden am 17.09.1736 in Coburg gehängt, andere Täter wurden nach Mühlhausen abgegeben und dort gehängt.

  1. Um 1750 macht sich in Niederhessen die „Hessische Bande” genannte Diebesbande eines gewissen Rehmann bemerkbar. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit scheint aber im Thüringischen und Sächsischen gelegen zu haben. Rehmann und 20 seiner Genossen erstürmten unter anderem mit Waffengewalt die „Fronfeste“ (Gefängnis) von Brehna bei Bitterfeld, um einen dort einsitzenden Kameraden zu befreien. Rehmann ist später in Leipzig gehängt
    worden [S. Ave LALLEMANT I, 89 und den I, 227 erwähnten, 1764 in Leipzig erschienenen Bericht über die peinliche Untersuchung gegen Mitglieder der sogenannten Kunzischen, Mehnertschen und Hessischen (Rehmannschen) Bande.]

In die gleiche Zeit fällt die Wirksamkeit einer thüringisch-hessischen Bande, über die wir auf Grund der Hildburghäuser Protokolle näher unterrichtet
sind, der Bande des „Krummfingers-Balthasar, „ein kurzer, dicker, untersetzter alter Kerl mit schwarzem Angesicht”, wie ihn sein Steckbrief beschreibt. Die
Bande ist ausführlich gewürdigt in dem Buch von Günther KRAFT „Historische Studien zu Schillers Schauspiel Die Räuber”. Das Werk, das ein umfangreiches Quellenmaterial verarbeitet hat, trägt in seinen Wertungen unverkennbare Züge politischer Tendenz, die durch Erscheinungsjahr und -ort bestimmt sind (1953 in Weimar). Der Verfasser ist ganz einseitig soziologisch orientiert und bemüht sich, das Gaunerwesen allein als ein Produkt des moralischen Verfalls der Oberschicht und als Ergebnis der ökonomischen Umstände, die Gauner als Vertreter eines im Grunde gerechtfertigten proletarischen Klassenkampfes gegen die herrschenden Mächte der Zeit darzustellen, womit er den Dingen sicherlich Gewalt antut.

1745 sitzen in Hildburghausen zwei zu der Bande gehörige Gauner, Hans Georg Schwarzmüller und Friedrich Werner, in Haft. Beide enden dort am Galgen. Im Verhör sagt Schwarzmüller aus [Hildburghäuser Prot. 5. 44 ff.]: Die Bande, zu der er gehöre, sei etwa 150 Mann stark und bis nach Schwaben, Bayern, Hessen, Hannover und Kursachsen hin verstreut. Ihr Haupt und König sei der Krummfingers Balthasar (Nr. 61 der Themarer Gaunerliste). Die Bande führe ein eigenes Siegel, welches der Krummfingers-Balthasar habe. Darauf sei abgebildet zwischen Pistolen, Pulverhorn, Diebslunten und „Schaberbarthel” (Brecheisen)
ein Mann mit einem Diebssack und der Umschrift: „Bin ein tuaf Caffer, der den Caffer sein schura [Nach Günther 31 von Zig. czor, Dieb, einer der selteneren zigeunerischen Bestandteile des Rotwelsch.] bestieben kann”, zu deutsch: „Bin ein braver Kerl, der dem Bauer sein Sach wegtragen kann.” Sie hätten auch ihr eigenes Recht, das „Plattenrecht”, das in einem Buch im Besitz des Krummfingers-Balthasar niedergelegt sei. Danach hielten sie Gericht, wenn einer von ihnen sich gegen die Gesetze der Bande vergangen, etwa bei Gericht etwas verraten habe. Den Vornehmsten der Bande verleihe der Balthasar Adelsprädikate (Graf, Freiherr) und Titel (Hofrat, Präsident, Amtmann und andere bis hin zum Sekretär und Kanzleiboten für die Geringeren unter der Bande) und stelle darüber mit Hilfe des Siegels Urkunden aus.

Wer mit den akademischen Verhältnissen in Jena vor 1933 vertraut ist, wird sich hier erinnert fühlen an ein mindestens bis zum Beginn des vorigen Jahrhunderts zurückgehendes Jenaisches Studentenbrauchtum, den sogenannten „Lichtenhainer Bierstaat”., Nach dem Grade bewiesener Trunkfestigkeit
wird ein „Herzog von Lichtenhain”“ gekürt, der seinerseits wieder nach dem Maße der vertilgten Menge des (recht harmlosen) Lichtenhainer Bieres Titel
und Hofämter verleiht. Da bekanntlich der studentische Jargon des 18. Und 19. Jahrhunderts manche Bestandteile aus dem Rotwelsch („Moos” für Geld
und ähnliches) angenommen hat, könnte angesichts auch der räumlichen Nähe des Tätigkeitsgebiets der Bande zu Jena die Vermutung auftauchen, auch hier liege in abgewandelter Form eine Übernahme gaunerischer Bräuche vor. Nach FABRICIUS [FABRICIUS 125] ist der Brauch jedoch akademischer Herkunft und weit älter. Schon von den Humanisten der Universität Erfurt wird im 16. Jahrhundert ein ähnlicher Brauch berichtet, wie er hier im Lichtenhainer Bier-Herzogtum oder in anderen ähnlichen, längst verschollenen, wüsten studentischen Bierspielen vorkommt. Die gemeinsame Wurzel des parallelen Auftretens ähnlicher Erscheinungen bei Gaunern wie bei Studenten liegt dann wohl in folgendem:
Hier wie dort haben wir eine gesellschaftliche Gruppe eigener Prägung, die dauernd oder – wie die Studenten zeitweilig – eine Sonderstellung gegenüber
der bürgerlichen Gesellschaft hat oder in Anspruch nimmt und zu ihr in einem gewissen Gegensatz steht. Hier die Welt der Gauner und die Gegenwelt der
bürgerlichen Ordnung und des Staates mit seinen Strafverfolgungs-Behörden, dort die des „freien Burschen” und die Gegenwelt des Bürgers, des Philisters
und auch wieder die des Staates mit seiner hierarchisch gegliederten Behördenordnung, von der ein Teil zu werden, der junge Jurist oder Kameralist sowohl
hofft wie fürchtet. Man fühlt dunkel, dass man sich der Übermacht der Gegenwelt auf die Dauer doch nicht entziehen kann: der Gauner sieht Galgen und
Zuchthaus als unausweichliches Ende seiner Laufbahn und auch der flotteste Student muss schließlich selbst einmal Philister werden. Dieses Gefühls er-
wehrt man sich, indem man die Bräuche und Einrichtungen der Gegenwelt in karikierender Nachahmung verspottet [Ave LALLEMANT 93 hält den Brauch für zigeunerischen Ursprungs, da auch diese ihre Herzöge und Grafen hätten, Dagegen spricht, dass der Balthasar im Gegensatz zu den Zigeunern auch Beamtentitel verleiht, sowie der relativ geringe Einfluss zigeunerischen Wesens auf Banden von Nichtzigeunern. Außerdem entspricht den zigeunerischen Herzogstiteln eine wirkliche Funktion, während das bei den Titeln der Gauner nicht der Fall ist].

KRAFT [KRAFT 24] sieht mehr und Bedeutsameres in dem spielerischen Treiben der Bande mit Titelverleihungen und gesiegelten Urkunden. Er hält es für eine „von der Bande besonders entwickelte Taktik”, die „als Vorstufe zu einem Staat im Staate die Anzeichen einer festen, illegalen Organisation erkennen
lasse.” Es ist sein schon oben charakterisierter, unrichtiger Ausgangspunkt, der ihn zu dieser Fehlbeurteilung führt. KRAFT verkennt das Wesen des Berufsverbrechertums, das nicht nur antisozial, Feind der bestehenden Ordnung, sondern auch asozial, Feind jeder Ordnung überhaupt ist und auch die Gemeinschaft einer Bande nur unter dem Zwang der Notwendigkeit und soweit das eigene Interesse reicht, achtet. Diese Titelverleihungen als „Aufbau einer
eigenen Verwaltungsordnung”“ zu sehen, würde voraussetzen, dass bei den Gaunern mindestens das dumpfe Streben nach einer besseren und gerechteren Sozialordnung als der ihrer Zeit, wenn auch noch nicht in klaren Vorstellungen von ihrer Beschaffenheit, vorhanden gewesen wäre. Davon ist jedoch nichts zu finden; das Gaunertum ist seinem Wesen nach anarchisch, nur der Befriedigung seiner Triebe lebend, die „Ordnung” der Bande ist die eines Wolfsrudels. Ave LALLEMANT [Ave LALLEMANT 93] hat recht, wenn er diese Klassifikationen durch Titelverleihungen als bedeutungslos bezeichnet. Es bleibt ein Spiel, als solches zwar vielleicht ernst genommen, aber nicht mehr als das.

Als man 1753 in Hildburghausen den „jungen Dieb” verhaftet hat, berichtet dieser von zwei in der Gegend bestehenden Banden, der „Hessenbande“, zu der auch die Franken gehören, und der „Thüringer Bande“ [Hildburghäuser Prot. 5. 8, 9.]. Anscheinend liegt, wie RADBRUCH [RADBRUCH 271] vermutet, eine Spaltung der Bande des Krummfingers-Balthasar vor. Der Verhaftete selbst rechnet sich zur Hessenbande und sagt, die „Thüringer“ seien bei ihnen wenig angesehen, weil sie als „Kapphänse” gälten, d. h. als Leute, die sich im Verhör einschüchtern ließen und dann zu plaudern anfingen. Beide Banden machten zwar manchmal gemeinsame Sache, gerieten aber oft über die Beuteteilung blutig aneinander. Die Thüringer Bande habe an hundert „Jungens”, die sie zum Baldowern brauche, die Hessenbande ebensoviel. Der bevorzugte Aufenthalt der Banden sei gegenwärtig die sogenannte Vogtei und die Hainleite bei Mühlhausen, nachdem sie vor einiger Zeit aus dem Werragebiet durch hessische Husaren vertrieben worden seien. Als Schlupfwinkel im hessischen Grenzgebiet nennt er vor allem Oberweid, Unterweid und Buttlar in der Vorderrhön, dann die Keller des „Alten Schlosses” (Normannstein) bei Treffurt [Hildburghäuser Prot. 5. 29]. Dort halte es der Knecht des Scharfrichters mit ihnen; sie hätten ferner „starke Retiraden“ in Weilar und in Gehaus in der Vorderrhön (beide Orte Boyneburgschen Patrimonialgerichts). In Gehaus säßen sie in der Schänke des „Schwarzen Frieder“ (der nach der 1758 erfolgten Verhaftung des Balthasar selbst Chef der Bande wird).

Nach dem, was KRAFT [KRAFT 101] berichtet, muss an diesen Orten in der Tat eine Verbindung zwischen den Gaunern und der Boyneburgschen Verwaltung angenommen werden. Die Beweise für seine Annahme, die Herrschaft selbst und ebenso die benachbarten Treusch von Buttlar hätten mit den Gaunern gemeinsame Sache gemacht, sind allerdings kaum schlüssig. Dass die Gauner „im Schloß“ eine Abgabe für ihre Herbergung und Duldung entrichten, rechtfertigt für sich allein noch nicht die Feststellung einer unmittelbaren Verbindung der Herrschaft mit den Gaunern oder auch nur ihrer Kenntnis von der Anwesenheit der Gauner, Natürlich fehlt unter den Beweisen auch der „unterirdische Gang” nicht, der nach einem Gerede der Bauern zwischen Schloß und Schänke des Schwarzen Frieder existiert haben soll.

Der junge Dieb erzählt weiter, die Hessen-Kasselsche Polizei sei zwar sehr scharf hinter den Gaunern her, aber das schade ihnen nicht viel, da die
Landbevölkerung im Grenzgebiet auf ihrer Seite sei. So seien z. B. in Oberhahn und Unterhahn (Ober- und Niederhone?) die Bauern alle „platt“, das
ist kochem. (Diese Unterstützung der Gauner durch die Bauern, die meist in einem passiven Verhalten, Verschweigen ihrer Anwesenheit bei der Obrigkeit, bestand, dürfte kaum in der Mehrzahl der Fälle freiwillig und aus innerer Sympathie mit dem Treiben der Gauner gegeben worden sein. Angesichts
des schwachen und unzureichenden polizeilichen Schutzes auf dem Lande hatten die Bauern die Rache der Gauner zu fürchten, wenn sie sich ihnen
offen entgegenstellten. Siehe den oben unter VI 2) zitierten Bericht des Wanfrieder Amtmanns Becker vom 23.10.1751. Der „junge Dieb“ nennt
die Namen einiger hervorragender Mitglieder der Bande: Neben dem „Schwarzen Frieder” den „Alten Mahr“, „Kutzelkopp”, „Zopp-Henrich” („welcher
Haare hat, die ihm bis über den Hintern gehen”), Bast, Konrad, Andreas, den Großen und den Kleinen Lips, den Bamberger Hans mit seinen Söhnen,
den „Safrans-Georg”, den Gerichtsdiener zu Nazza bei Mihla namens Stanislaus, den „Gottes Nickol“ und andere. Von den weiblichen Bandenmitglie-
dern, die er nennt, führt eines den schönen Namen „Dina, das Rotzfaß“. Die Beinamen anderer weiblicher Bandenmitglieder sind von so obszöner Unflätigkeit, dass sich ihre Wiedergabe im Druck verbietet.

Merkwürdig ist die erstaunlich an SCHILLERS Karl Moor erinnernde Beschreibung, die der Verhaftete von einem Bandenmitglied gibt, das er „das Pfäffgen“ nennt [Hildburghäuser Prot. S. 35]. Dieser sei ein Adeliger, Graf oder Baron, lang von Statur, schön von Gesicht, 28 bis 30 Jahre alt, trage weiße Perücke mit schwarzem Zopf, ein mit Goldtressen besetztes Kleid mit Ordensstern, führe einen Degen mit silbervergoldetem Griff und Pistolen mit sich. Das „Pfäffgen“ stehle nicht persönlich, habe aber stets neun Gauner zu seiner Bedienung, die nach seinen Befehlen stehlen und ihm die Hälfte abgeben müssten. Unter diesen Begleitern des Pfäffgen nennt er den „Stumpffingrigen Kaspar”, den „Bildhauer”, den „Querl“, den „Schönen Gottlieb”, den Ludwig, den Hasenschartigen Heinrich“ (sei ein desertierter hessischer Soldat) und den „Justel”.

Konkrete und genauere Angaben über in Hessen verübte Taten der Bande kann der „jugendliche Dieb” nicht machen. Einige Mordtaten, die er erwähnt,
sind im Thüringischen begangen. Im Übrigen gibt er nur an, das „Pfäffgen” habe vor einiger Zeit bei einem adeligen Herren zwischen Waldkappel und
Kassel einbrechen lassen, und der Alte Mahr, der Gerichtsdiener von Nazza, Gottes Nickol und einige andere hätten anderthalb Jahre zuvor einen vor-
nehmen Herrn zu Kassel übel traktiert, gebunden und ausgeraubt, ebenso einen reichen Müller in der Nähe von Kassel.

  1. Um 1780 macht sich in Hessen die starke Diebesbande des Philipp Schlemming durch bedeutende Diebstähle furchtbar [SCHWENKEN 10]. Sie findet auch Erwähnung in der Novelle „Die Judenbuche” von Annette von DROSTE-HÜLSHOFF, deren Handlung im Hessisch-Westfälischen Grenzgebiet an der Diemel spielt. (Siehe dort den Brief des Gerichtspräsidenten zu P. — das ist Paderborn —, man habe die Bande des Philipp Schlemming dingfest gemacht, die in P. ihrer Aburteilung entgegensehe. Ein Mitglied dieser Bande habe gestanden, der Mörder des alten Aaron zu sein, ein Geständnis, das sich bekanntlich später
    als unrichtig herausstellt.) Ebenfalls aus der Zeit um 1780 erwähnt SCHWENCKEN die Diebesbande eines gewissen Masemann oder Maßmann. Ende 1780
    sitzen Masemann und einer seiner Genossen namens Beermann in Kassel in Haft. Andere Mitglieder der Bande werden in der Casselschen Polizey- und
    Commercienzeitung unter dem 20.11.1780 steckbrieflich gesucht. [https://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/fullscreen/1358331788521_1780/710/]
    Es sind unter anderem:

Johann Heinrich Ludolf Andree, vulgo Gose-Henrich, der jetzt der Chef zu sein scheint (er hat rote Haare, an beiden Händen Daumen- und Zeigefinger
auffallend weit auseinanderstehend, dazwischen „je einen Klumpen Fleisch“), Daniel Möller, Philipp und Friedrich Kanngießer, Gesche Bülow, vulgo „Alte
Marie”, Heinrich Schlatte, vulgo „Kurzdaumiger Heinrich“ [Körperliche Missbildungen der verschiedensten Art sind in Gaunerlisten und Steckbriefen auffallend häufig erwähnt. S. die Zusammenstellung solcher Mängel bei SCHWENCKEN 648 ff.], der Kesselflicker Quenzel, vulgo „Älter Leyrendreher”, noch ein Kesselflicker, ein Mann namens Falckenberg mit seiner „Braut“ Luise Wackermaul, der „Preußische Heinrich”, Karl Ludwig Möller („hat ein Frauensmensch bei sich, genannt „die Heuscheuer”), Meyer-Baß mit Frau, Tochter und Knecht, Muck, „Schlampelchen“ und Machole Hertz, Michael Blarch mit Frau und Tochter (sprechen holländisch), noch zwei Holländer und eine ganze Reihe weiterer. Bei der Frau des Blarch wird bemerkt, sie trage „am Hals ein silbernes Kreuz und am Kamisol silberne Knöpfe von der Größe eines Taubeneis”.

Möglicherweise ist dieser Bande der Überfall am 06.11.1779 durch acht Kerle auf eine Postkutsche bei Niederaula zuzurechnen, den die Casselschen
Polizey- und Commercienzeitung sehr verspätet am 25.02.1780 mit recht knapper Beschreibung der Täter und Aufforderung an die Öffentlichkeit, die
Fahndung zu unterstützen, meldet, ebenso ein von der Polizey- und Commercienzeitung unter demselben Datum (20.11.) gemeldeter Einbruch vom 28./29.03.1780 in das Fritzlarer Münster, wobei eine große Anzahl goldener und silberner Kelche, Kruzifixe und sonstiger Kultgeräte geraubt worden seien, und weiter ein gewaltsamer Einbruch am 05./06.03.1780 bei einer Einwohnerin in Bursfelde.


VL.
  1. Die Gaunerbanden sind zwar das ganze 18. Jahrhundert über eine rechte Plage für die Bevölkerung gewesen, aber ihre Gefährlichkeit hat im Lauf
    des Jahrhunderts doch etwas abgenommen. War ihr Auftreten in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg noch mit Mord und offenem bewaffnetem Terror gegen ganze Ortschaften und Landstriche verbunden gewesen, entsprechend der Kriegführung, die man vom Dreißigjährigen Krieg und noch von den Kriegen Ludwigs XIV. von Frankreich gegen das Reich her gewöhnt gewesen war, so hatte sich doch im Laufe der Zeit, so wie sich die Kriegführung in den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts rationalisiert und humanisiert hatte, auch das Treiben des Berufsverbrechertums „humanisiert”. Das heißt nicht, dass die Gauner vor einem Mord zurückgeschreckt wären, wenn er ihnen notwendig oder auch nur nützlich erschien. Aber der bandenmäßige Terror wird im Allgemeinen nicht mehr angewandt, die Banden ziehen es vor, zwar nicht ganz ohne Gewalt, aber vorzugsweise heimlich und geräuschloser zu arbeiten. (Die oben erwähnte Zigeunerbande des Galantho mag wie andere Zigeunerbanden, etwa die des Hannickel in Südwestdeutschland, für ihre Zeit schon eine Ausnahme bilden, zu erklären aus der Sonderstellung der gern unter sich bleibenden Zigeunerbanden.) Diese Entwicklung bestätigt als zeitgenössischer Sachkenner auch der Sulzer Oberamtmann SCHÄFFER [SCHÄFFER 395].

Um 1780 kann die geplagte hessische Bevölkerung etwas aufatmen. Die Nachwehen des Siebenjährigen Krieges sind überwunden, in Europa herrschen seit einigen Jahren verhältnismäßig friedliche Zeiten, die behördliche Verbrechensbekämpfung hat aller Hemmnisse ungeachtet gewisse Erfolge gezeitigt und man scheint immerhin auf dem Wege zu einer endgültigen Überwindung des Übels.

  1. Da tritt ein Ereignis ein, das alle bisherigen Erfolge der Verbrechensbekämpfung zunichte zu machen droht. Es ist eine neue Springflut der Kriminalität, die, außerhalb Hessens entstanden, ihre Wellen auch bis zu uns treibt. Um die Ursachen der neuen Entwicklung zu erklären, ist es nötig, den hessischen Raum und seine unmittelbare Umgebung zu verlassen. Die Quelle des neuen Unheils liegt an der unteren Maas, etwa im Raum zwischen Lüttich, Aachen und Nymwegen. Diese Landschaft, seit Jahrhunderten ein Tummelplatz deutscher, spanischer, französischer, englischer und holländischer Kriegsvölker und des herrenlosen Gesindels in ihrem Gefolge, ist ähnlich der Quart berüchtigt als Paradies für Gauner, denen die zahlreichen Ländergrenzen der Ecke stets einen Fluchtweg sichern. Ave LALLEMANT [Ave LALLEMANT, I, 24] bezeichnet den inmitten dieser Landschaft liegenden Ort Mersen als „die Hohe Schule der
    französischen und deutschen Gauner-Koryphäen zu Ende des 17. Jahrhunderts.” Ende des 18. Jahrhunderts ist der Ort dann in der Tat zu einer Keimzelle und Urmutter des Verbrechertums geworden, von der eine neue Phase der Kriminalität ausgeht. Im 18, Jahrhundert waren hier zweimal, ausgehend von der Gegend um Herzogenrath, gefährliche Diebesbanden in Erscheinung getreten, 1734-56 die Bande der nach ihrem Hehlernest so genannten „Mersener Bockreiter” [Über sie vgl. MICHEL 21ff., der die reichlich fantastisch klingenden Schilderungen bei Ave LALLEMANT auf ein nüchternes Maß zurückzuführen sucht.]. Die Bande arbeitete ohne Gewalt, heimlich und mit einer Schnelligkeit, die man der Hilfe des Teufels zuschrieb und der sie ihren Beinamen die „Bockreiter” verdankte. Nachdem die Bande blutig unterdrückt worden ist, herrscht einige Jahre Ruhe. Die Störungen der Ordnung durch den Siebenjährigen Krieg führen zu einem erneuten Aufleben der Bandentätigkeit in dieser Gegend. Die Bande hat jetzt einen ehrenvoll entlassenen, österreichischen Regimentschirurgus namens Kirchhof als Führer. Sie macht sich den geheimnisvollen Nimbus der älteren Bockreiterbande zunutze, arbeitet aber anders als diese, indem sie auch zur offenen Gewalt greift. Nach der Verhaftung und Hinrichtung des Kirchhof und zahlreicher Genossen ist wieder ein paar Jahre Ruhe. Aber die Ruhe ist trügerisch, die Bande keineswegs ausgerottet, nur zersprengt, und Mersen ist das alte Gauner- und Hehlernest geblieben, eine Eiterbeule, die nur des Anstoßes bedarf, um wieder aufzubrechen und ihren verderbenbringenden Inhalt umherzustreuen.

Dieser Anstoß kommt mit der Französischen Revolution von 1789 und der durch sie bewirkten Erschütterung der staatlichen und sittlichen Ordnung. Alles, was an mehr oder minder gefährlichem Gaunertum in Europa zwischen den Pyrenäen und den Sudeten, von der Nordsee bis Italien lebt, da und dort in den vergangenen Jahren schon zurückgedrängt und „gezähmt”, wittert jetzt Morgenluft und fühlt sich zu neuer, gefährlichster Aktivität ermuntert. Die Französische Revolution löst in den Niederlanden einen Aufstand gegen die österreichische Herrschaft aus, von dem auch Holland nicht unberührt bleibt. Damit ist der unmittelbare Anlass gegeben, der das vom Wirken der Bockreiterbande her latent vorhanden gebliebene Verbrechertum neu belebt. Wie häufig in solchen Fällen verbinden sich das Freiheits- und Rachebedürfnis bisher unterdrückter Volksteile [Schon in der zweiten Mersener Bande hatten, obwohl das nicht völlig geklärt ist — vielleicht auch — revolutionäre Freiheitsbestrebungen mitgewirkt.] mit die Gelegenheit nutzenden, rein kriminellen Elementen zu einer ununterscheidbaren Mischung, wobei das kriminelle Element dann vorwaltet, Die neue Drohung des Verbrechertums nimmt Gestalt an in der seit 1790 in Verbindung mit holländischen Räubern auftretenden sogenannten „Großen Niederländischen Bande”, die zu einem erheblichen Teil aus Holländer und Brabanter Juden besteht und in der auch das alte Mersener Gaunertum wieder erscheint. Ihr Hauptvertreter, bei fast allen Taten ihr Anführer, ist Abraham Kotzo oder Picard aus Winshoote bei Groeningen in Holland [Becker Il, 6, 14]. In ihm gewinnt das Räubertum wirklich einen Zug ins „Kolossalische“. Unter den Gaunern des 18. Jahrhunderts zeigt er wohl das bedeutendste Format. Die Planungen seiner Raubzüge sind so weitschauend wie sorgfältig, kühne, vor keinem Hindernis zurückschreckende Entschlossenheit kennzeichnet ihre Durchführung. Großzügig und verschwenderisch tritt er gern als eleganter Kavalier auf, der seine Beute in Pariser Bordellen verprasst. Seine Räuberaktionen pflegte er zu Pferde anzuführen. Der Umfang seiner eigenen Tätigkeit und der der Niederländischen Bande wird daran deutlich, dass durch ihn bzw. unter seiner Anführung bis 1804 nicht weniger als 360 schwere Diebstähle, gewaltsame Einbrüche und Raubmorde stattgefunden haben mit einer Gesamtbeute im Werte von 3 1/2 Millionen Franken. Aber nicht nur Größe und Bedeutung seiner Aktionen heben ihn und seine Bande aus dem Kreis des zeitgenössischen Gaunertums heraus. Sein und aller seiner Genossen besonderes Kennzeichen ist auch eine wilde Grausamkeit, die häufig völlig „zwecklos“ um ihrer selbst willen in hohngrinsender Lust an fremdem Leiden geübt wird, etwa, wenn bei einem
Einbruch einer Mutter das Kind aus den Armen gerissen wird und dann zur Belustigung der Bande erst dem Kind und dann der Mutter die Ohren abgeschnitten werden [Becker Il, 11, 19, 22]. Zeitgenössische Polizeiberichte schildern Picards Äußeres [Becker I, 15]. „Langes, schwarzes Haar hängt ihm wirr um den Kopf herum, aus seinem mageren, blassen Gesicht funkeln ein Paar schwarze, wildes Feuer verkündende Augen, ein buschigter Backenbart umschattet sein Gesicht.”

Dadurch, dass die Bande das Zentrum ihres immer weit ausgedehnten Wirkungskreises mehrfach wechselt, ist sie schließlich überall in Westeuropa zwischen Paris, Hamburg und Süddeutschland bekannt und gefürchtet. Ihrem großen Aktionsradius entspricht ein ausgebreitetes Netz von Kochemern, Bal-
dowern und Hehlern, in dessen Mitte als Organisator und Anstifter der greise Schwiegervater Picards, Jakob Moyses, steht. Dieser beteiligt sich nicht selbst
und unmittelbar an Verbrechen (außer, dass er in großem Umfang Assignaten fälscht), er ist aber — zunächst von Winshoote, dann von Antwerpen und zuletzt von Gent aus wirkend — die Spinne, die die Fäden des Netzes zieht und das Netz überwacht und beherrscht.

Mit dem Auftreten der Niederländischen Bande erscheint eine neue oder besser die Wiederbelebung einer alten Raub- und Einbruchstaktik. Die Bande
kehrt zur offenen Gewalt und zum bewaffneten Terror früherer Zeiten zurück. Typisch für sie ist die Verwendung des sogenannten „Rennbaums”, das ist
ein unterwegs aufgelesener Baumstamm oder der Pfahl eines Wegkreuzes, mit dem die Tür des zur Beraubung ausgesuchten Hauses eingestoßen wird.
RADBRUCH hat allerdings wohl unrecht, wenn er meint [RADBRUCH 286], der Rennbaum sei eine „Erfindung” der niederländischen Räuber gewesen. Auch die Bande des Galantho hat sich schon bei dem oben erwähnten Überfall auf das Haus des Pfarrers Heinsius dieses Mittels bedient [WEISSENBRUCH 73]. Ebenso kennt SCHÄFER [SCHÄFER 4 und 81] (der von den Niederländern noch nichts erwähnt und dessen Aufzeichnungen sich nur auf die deren Auftreten vorangegangenen „stilleren” Zeiten beziehen) in seiner Aufzählung der verschiedenen Arten von Gaunern die rotwelsch so genannten „Kochmooren” oder „Achproschen”, das sind Gauner, die mit dem Versuch offener, gewaltsamer Einnahme des aufs Korn genommenen Hauses vorgehen (wobei SCHÄFER hinzufügt, dass das in seiner Zeit seltener geworden sei.) Es wäre auch verwunderlich, wenn ein so naheliegendes und einfaches Mittel erst jetzt hätte „erfunden“ werden müssen. Richtig dürfte nur sein, dass die niederländischen Räuber nach einer verhältnismäßig „zahmen” Periode des Räubertums die Anwendung offener Gewalt und die Verwendung des Rennbaums, nachdem die zweite Bockreiterbande damit begonnen hatte, erneut zur Regel gemacht und dass sie damit allerdings einen gewaltigen Einfluss auf die Gestaltung der Kriminalität der nächsten Jahrzehnte ausgeübt haben, Ihr so erfolgreiches Verfahren macht rasch Schule und wird von anderen Banden nachgeahmt. Darin liegt in der Tat die besondere Bedeutung, die den Niederländern in der Kriminalgeschichte jener Zeit zukommt.

Bezeichnend ist, dass diese allgemeine Änderung der gaunerischen Taktik einhergeht mit einer ebenso grundlegenden Änderung auf einem ganz anderen
Gebiet, nämlich dem der Kriegführung. Die Kriege der Französischen Revolution und der anschließenden Napoleonischen Zeit bringen anstelle der Berufsarmeen des absolutistischen Staates politisch fanatisierte Volksmassen auf die Schlachtfelder und leiten damit eine neue Epoche der Rebarbarisierung
des Krieges ein. 50 wie der Krieg, befreit von den Fesseln kühler Staatsvernunft, die ihm das 18. Jahrhundert angelegt hatte, ein neues, furchtbareres
Antlitz zeigt, wird auch gleichzeitig die Fratze des Berufsverbrechertums wieder in ihrer ganzen abstoßenden Scheußlichkeit sichtbar.

Die Bande nennt sich nach ihren wechselnden Aufenthaltsorten Niederländische, Brabanter und Mersener Bande. 1798, als ihr nach einem besonders frechen Überfall auf das Haus eines reichen Geldwechslers mitten in dem Städtchen Eupen der Boden unter den Füßen zu heiß wird, muss sie die Maas-Gegend verlassen, siedelt nach Neuwied über und nennt sich nun Neuwieder Bande. Als solche wird sie auch für Hessen bedeutungsvoll. Sie trifft am
Rhein eine andere, bereits bestehende, die Neußer und Krefelder Bande, an, die – bis dahin relativ „harmlos” gewesen – mit ihr verschmilzt und ihre Methoden übernimmt. Hauptvertreter der Neußer und Krefelder Bande ist ein gewisser Matthias Weber, genannt „der Fetzer” [PITAVAL 164 ff.]. (Auch sein Name taucht bei Annette von Droste-Hülshoff auf in ihrer Ballade „Der Geierpfiff”.) Fetzer, Sohn eines Handwerkers (der später Soldat wird und als solcher desertiert) aus Gräfenrath bei Krefeld, tut auf der Schule nicht gut, wird Schweinehirt, dann Hausknecht in einer adeligen Familie, verlässt diesen Dienst, obwohl er dort gefördert wird, wird holländischer Soldat, desertiert und gerät dadurch in kriminelle Kreise. Unter seiner Führung unternimmt die Bande einen durch die Umstände merkwürdigen Überfall, von dem Becker [BECKER Il, 229] berichtet. Der Name des Ortes ist in den Unterlagen nicht genannt. Da die Gauner sich aber vor der Tat bei Pyrmont getroffen und der Schauplatz des Geschehens ein Dorf, & Stunden Fußmarsch von Kassel gelegen, gewesen sein soll, ist anzunehmen, dass es sich um einen Ort in der Diemel-Gegend gehandelt hat. Die Räuber gerieten mit der eingestoßenen, nach innen zusammenbrechenden Haustür in einem Raum, in dem die Bewohner um die aufgebahrte Leiche des an diesem Tage gestorbenen Hausherrn die Totenwache hielten.
Beim Anblick der brüllend, mit schwarz maskierten Gesichtern und mit brennenden Lichtern hereinstürmenden Räuber glaubten die Leute, Teufel zu sehen, die gekommen seien, die Seele des Abgeschiedenen zu holen, und flüchteten in panischem Entsetzen durch die Fenster. Die Räuber begaben sich davon unberührt an ihr Geschäft, hinzukommende Bauern, die sie hindern wollten, wurden durch Flintenschüsse vertrieben und die Räuber konnten ihr Unternehmen glücklich zu Ende führen.

Andere, durch Rücksichtslosigkeit und verbrecherische Aktivität hervorstechende Mitglieder der Bande sind:

Jan und Franz Bosbeck, genannt „Schifferchen”, ehemalige Brabanter „Patrioten”, das heißt Teilnehmer am Aufstand gegen die österreichische Herrschaft in den Niederlanden (Franz 1800 in Den Haag gehängt. Jan nach Verurteilung in Marburg 1816 zu lebenslänglicher Eisenstrafe 1818 in Ziegenhain gestorben), Damian Hessel, vulgo „Studentchen“ [Über ihn s. PITAVAL 267 ff], Sohn eines wohlhabenden Tabakfabrikanten in Paderborn, ursprünglich zum geistlichen Stand bestimmt, der wegen übler Jugendstreiche sein Elternhaus hatte verlassen müssen, holländischer Soldat geworden war, dann desertiert und mit kleinen Diebstählen, durch die er seiner Geliebten imponieren wollte, beginnend, zum Verbrecher geworden war; Strittmatter [PITAVAL 280], ein wohlhabender Müller aus dem Schweizer Kanton Aargau, der angeblich von einem Wucherer um Hab und Gut gebracht worden und so auf die Verbrecherlaufbahn geraten war; „Hampel Hohlmich” aus Hildesheim, der 1807 in Marburg gehängt wird; Feist Hühnerhund, aus Eckardenroth in der Nähe von Gelnhausen gebürtig (1805 in der Untersuchungshaft in Kassel Selbstmord); Karl Heckmann, Adolf Weyers, Johann Harting, genannt „Jan der Brabänter” oder „Alter Hammer“ (1803 in Düsseldorf enthauptet), dessen Söhne „Brabänter Klaus” und „Brabänter Georg“ kurze Zeit später als Mitglieder der sogenannten „Großen Bande“ in Hessen erscheinen.

Die Neuwieder haben auch Verbindung zu einer in Essen bestehenden Bande und einzelne ihrer Mitglieder, wie Hampel Hohlmich, siedeln zeitweise dorthin über.

Neben Neuwied hatte die Bande einen weiteren, in Hessen gelegenen Hauptstützpunkt: In einem Seitental des Vogelsberges zwischen Gelnhausen und Wächtersbach lag im sogenannten „Huttenschen Grund“ die Freiherrlich von Huttensche Herrschaft Eckardenroth/Romsthal [Becker II, 295 ff.]. Hier saß ein besonderes Musterexemplar eines korrupten Amtmannes, der den Gaunern, die in der Wirtschaft in Eckardenroth oder in der nahegelegenen Ziegelhütte sich aufzuhalten pflegten, großzügig Schutz und Obdach gewährte, in genauer Kenntnis der Art seiner Gäste ihnen Reisepässe ausstellte und sogar am Ertrag ihrer Diebestaten partizipierte. Das ging immerhin vier Jahre, von 1798 bis 1802, gut. Dann entließ der alte Herr von Hutten, durch die dringenden Vorstelluns
gen der Hessischen Regierung in Hanau über den Charakter seines Amtmannes aufgeklärt, den korrupten Beamten und ersetzte ihn durch einen korrekten und pflichttreuen Mann.

Von Eckardenroth aus unternahm die Bande neben anderen Raubzügen, wie einem Einbruch in die Klosterkirche auf dem Frauenberg bei Fulda, bei dem sechs silberne und goldene Kelche erbeutet wurden, auch eine ihrer aufsehenerregendsten Aktionen in Hessen, den Überfall auf das Haus des Gerichtsschöffen Lauer in Kleinseelheim bei Marburg im August 1800 unter Anführung von Picard. Von weiteren „Prominenten“ der Bande sind beteiligt: Overtüsch, Monsam, Fetzer, Heckmann, Afrom May und Hampel Hohlmich. Die Ausführung der Tat ist typisch für die von der Bande regelmäßig angewandte Taktik, ihre Schilderung bei BECKER [Becker II, 301 ff.]” kann hier die Darstellung der Einzelheiten zahlreicher ähnlicher Vorgänge vertreten. Zwei Bandenmitglieder hatten unter dem Vorwand eines Pferdehandels die Gelegenheit ausbaldowert. Die Räuber versammelten sich vor der Tat, einzeln anrückend, vor dem Dorf. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde ein Späher losgeschickt, der das Schloss der Kirchentür verkeilte, um ein Sturmläuten zu verhindern. Dann zog der ganze Haufen, etwa 20 Mann, maskiert, mit brennenden Kerzen und Fackeln, die Marseillaise grölend (um einen französischen Truppendurchzug vorzutäuschen) und zur Einschüchterung der Dorfbewohner Flintenschüsse abfeuernd, in das Dorf ein. Das Tor des Lauerschen Hauses wird mit dem Rennbaum eingestoßen, die Hausbewohner aus den Betten gerissen, zusammengeschlagen und unter grausamen Misshandlungen und Foltern (wozu unter anderem die mitgebrachten Kerzen dienen) gezwungen, die Stellen, wo Geld oder Wertsachen im Hause versteckt sind, anzugeben. Einige besonders entschlossene Räuber hat man während dieses Vorgangs auf der Dorfstraße postiert, die zu Hilfe eilende Dorfbewohner durch Flintenschüsse zurücktreiben. Dass nahebei in Kirchhain ein Bataillon hessischer Landmiliz lag, störte die Räuber nicht im mindesten. Nach beendeter Plünderung zogen die Räuber wieder unter lautem Gebrüll und ständigem Abfeuern der Flinten davon. Sie marschierten in derselben Nacht noch bis in die Nähe von Büdingen (ein Beweis für die große Beweglichkeit der Banden), wo im Walde im Morgengrauen die große Beute, deren Wert über 8000 Reichstaler betrug, geteilt wurde, (Bei Beuteziffern dieser und ähnlicher Höhe muss man sich vergegenwärtigen, dass ein solcher Raubüberfall nicht selten den völligen, wirtschaftlichen Ruin einer Familie bedeutete, da jene Zeit Diebstahls- und Einbruchsversicherungen noch nicht kannte.)

Vor dem Kleinseelheimer Raub hatte die Bande im Mai 1798 von Neuwied aus einen ähnlich dreisten Anschlag auf das Dorf Daaden bei Dillenburg unternommen [Becker Il, 202 ff.]. Diesmal war Adolf Weyers der Führer, Picard hatte infolge einer Krankheit nicht teilnehmen können. Das Unternehmen ging in der gleichen Weise wie der Kleinseelheimer Überfall vor sich. Einige unglückliche Kohlenbrenner, die die Versammlung der Räuber im Walde beobachtet hatten, wurden niedergeschlagen, geknebelt und gefesselt im Gebüsch abgelegt. Die vorgeschickten Späher machen den Nachtwächter des Dorfes, der ihnen in den Weg läuft, unschädlich, aber als dann der Haupttrupp anrückt und die Räuber mit Hilfe des Rennbaums in das von den Baldowerern ausgesuchte Haus eingedrungen sind (man vermutete darin die Wertsachen eines reichen Neuwieder Bankiers Bruckmann, die dieser der unsicheren Kriegsläufte halber seinem Schwager in Daaden zur Aufbewahrung gegeben haben sollte), stellt sich heraus, dass sie in der Dunkelheit an das falsche Haus geraten sind. Auch ein zweites Haus, bei dem die Räuber kaltblütig noch ihr Glück versuchen, erweist sich nicht als das richtige. Dann müssen sie die Aktion abbrechen, da schon überall in der Umgegend die Sturmglocken geläutet werden. Auf dem Rückmarsch verirren sie sich in aufkommendem Nebel und sind, als der Morgen graut, noch immer in unmittelbarer Nähe von Daaden. Hier werden sie von über 1000 Mann, Militär und aufgebotenen Bauern, gestellt, ergeben sich aber erst nach einem längeren Feuergefecht. Sie kommen als Gefangene nach Wesel. Einigen, wie Damian Hessel, gelingt es, dort auszubrechen. Die anderen werden von den preußischen Behörden der Kaiserlich-Russischen Regierung „geschenkt” zur Verwendung in sibirischen Bergwerken. Infolge der Nachlässigkeit der zaristischen Behörden gelingt aber bald nach der Landung des Transportes in Narwa den meisten die Flucht, sie kehren nach Deutschland zurück und können in Ostpreußen ihr Gaunerleben noch eine Weile weiterführen.

1801 unternimmt die Bande, wieder von Picard geführt, einen ebenso aufsehenerregenden Überfall auf die Poststation in Würges zwischen Limburg und Frankfurt, bei dem der Posthalter fürchterlich zugerichtet wird und die Bande eine große Beute macht.

Inzwischen hatte sich im linksrheinischen Gebiet die französische Staatsautorität allmählich eingerichtet, die neuen Schwurgerichte und Staatsanwaltschaften und vor allem die nach französischem Muster eingerichtete, straff zentralisierte und militärisch organisierte Gendarmerie hatten begonnen, sich als äußerst wirksame Waffen gegen das Verbrechertum zu bewähren. Nach dem Kleinseelheimer Überfall und dem Postraub zu Würges verschärften sich auch die Anstrengungen der rechtsrheinischen deutschen Behörden gegen das Verbrechertum. Dieser gesteigerten Verfolgungsintensität fällt das erster Fetzer zum Opfer. Er wird Ende 1801 in der Nähe von Salmünster von hessischen Husaren aufgegriffen. Da er hochverdächtig erscheint, man ihm aber nichts Rechtes nachweisen kann, wird er kaiserlichen Werbern übergeben.
Er kommt zu einem Regiment nach Österreich-Schlesien, desertiert dort aber alsbald und kehrt in seinen alten Wirkungskreis zurück. Erst 1803 wird er endgültig durch die französischen Behörden gefasst und in Köln guillotiniert. Becker [Becker II, 407] widmet ihm einen fast hymnischen Nachruf. Der von den französischen Behörden energisch geführte Kampf gegen die Banden ist im linksrheinischen Gebiet 1803 im Wesentlichen erfolgreich beendet. Die Moselbande des Philipp Ludwig Mosebach, die Schinderhannesbande, die Essener und Neuwieder Bande sind zersprengt, der Spuk ist hier vorüber. Die Banden sind jedoch nicht ausgerottet, wie die Bilanz des französischen Kampfes gegen die Neuwieder Bande zeigt. Von 205 den Behörden namentlich bekannten Mitgliedern sind 1803 hingerichtet 33, einer hat in der Haft Selbstmord begangen, 2 sind im Kerker gestorben, im Zuchthaus oder auf der Galeere sind 38.
Es bleiben immerhin 131 Mitglieder, die noch in Freiheit sind. Sie weichen unter dem Druck der Verfolgung in das rechtsrheinische Gebiet aus, verbinden sich mit den dortigen Gaunern zu neuen Banden und verleihen diesen durch ihre Terrorpraxis, die sie mitbringen, eine erhöhte Gefährlichkeit.

  1. Zu den durch die französischen Behörden zersprengten linksrheinischen Banden gehört, wie erwähnt, auch die des Schinderhannes. 1803 wird der
    Schinderhannes mit 18 seiner Genossen in Mainz enthauptet, Das Wirkungsfeld der Schinderhannes-Bande ist das Hunsrück- und Moselgebiet gewesen,
    auf hessischem Boden ist der Schinderhannes nur zweimal in Erscheinung getreten: Er hat als „Gasträuber” bei den Neuwiedern an dem Postraub zu
    Würges mitgewirkt und er hat mit seiner eigenen Bande im November 1800 einen Überfall auf das Pfarrhaus in Hundsanger bei Hadamar im Westerwald
    unternommen.

Für Hessen ist die Schinderhannes-Bande deshalb nur insofern von Interesse, als auch von dieser Bande zahlreiche versprengte Mitglieder nach 1803
vor allem im südlichen Hessen auftauchen, sich mit den einheimischen Gaunern verbinden und die bisher linksrheinisch geübten Praktiken nach hier
übertragen.

Die Erkenntnis der durch die Übersiedlung der rheinischen Gauner ins rechtsrheinische Gebiet heraufziehenden neuen Gefahrt veranlasst 1805 die
oben schon erwähnte Sicherheitskonferenz in Bad Brückenau [StAM Bestand 17 g Gef. Nr. 39 1b]. Bedeutend ist der Ertrag der Konferenz nicht, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass an mehr als an eine Kontaktaufnahme über technische Einzelheiten der Verbrechensbekämpfung wohl von vornherein nicht gedacht gewesen ist. Das geht aus dem Rang der Unterhändler hervor. Der hessische Vertreter ist der Amtmann von Altengronau, die anderen Bevollmächtigten gehören etwa der gleichen Rangstufe an. Noch ist die Zeit für eine grundlegende Änderung auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung noch nicht reif.

In $ 1 der zusammengefassten Konferenzergebnisse wird die überraschende Erkenntnis mitgeteilt, die Quellen des Gaunerwesens seien Immoralität,
Müßiggang und Armut. Abgesehen davon, dass in allgemeinen Wendungen verbesserte Schulanstalten für Christen und Juden empfohlen und einige Bestimmungen über die Verhinderung des Bettelns und über die Fürsorge für Bedürftige getroffen werden, werden nur gemeinsam einzuführende polizeilich-technische Verbesserungen vereinbart. Sie betreffen das Passwesen, die Grenzüberwachung, das polizeiliche Meldewesen, die gegenseitige Auslieferung
von Deserteuren und das Recht der Nachfolge auf fremdes Territorium bei der Fahndung nach Gaunern. Personen, in deren Pass radiert oder herumgekratzt zu sein scheint, sollen in Untersuchungshaft genommen, wandernde Handwerksburschen, deren letztes Beschäftigungszeugnis älter ist als ein Vierteljahr als „Fechtbrüder” behandelt werden, wenn sie nicht unverschuldete Arbeitslosigkeit nachweisen. Neben den bekannten Gaunerschlupfwinkeln auf dem Lande, wie Einödshöfen, abgelegenen Wirtshäusern u. dgl. soll die Polizei ihr Augenmerk auch auf die Bordelle in den Städten richten. Für die Besitzer solcher Häuser werden Belohnungen ausgesetzt, wenn sie verdächtige Personen anzeigen. Zigeuner und fremde Betteljuden solle kein Land hineinlassen, Die letzteren stellten auch eine große Belastung für die ehrbaren, eingesessenen Schutzjuden dar und seien auch — ein neuer Gesichtspunkt — aus seuchen-
polizeilichen Gründen unerwünscht. Neben den schon früher erwähnten ambulanten Gewerben solle die Polizei ihr Augenmerk auch richten auf „Waldbrüder, Eremiten, Pilgrime und orientalische Prinzen”.

Auch Picard ist unter denen, die nach Hessen ausgewichen sind. Hier ist ihm jedoch keine lange Wirksamkeit beschieden. Picard und Hampel Hohlmich werden 1805 in der Nähe von Gelnhausen durch die kurhessischen Behörden verhaftet und nach Marburg gebracht. Hampel Hohlmich wird dort 1807 gehängt, während Picard im selben Jahr in der Untersuchungshaft in Marburg eines natürlichen Todes stirbt und dadurch dem Galgen entgeht.


IX.

Die durch den linksrheinischen Zuzug heraufgeführte neue Phase der Raub- und Diebstahlskriminalität verkörpert sich in Hessen in einer Anzahl von
Banden. Sie unterscheiden sich in ihrem Wirken nicht. Es ist in ermüdender Eintönigkeit immer wieder das gleiche Bild, das sich bietet. Erst durch die
Zusammenstellung der Tätigkeit aller dieser Banden wird aber das Typische der Zeitkriminalität plastisch deutlich, die verbreitete Unsicherheit auf dem
Lande und die Schwierigkeit ihrer Bekämpfung.

Im einzelnen sind folgende Banden zu nennen:

  1. Die sogenannte „Große Bande” der Brüder Georg und Nikolaus Harting [SCHWENKENsche Gaunerliste Nr. 351], der Söhne Jan des Brabänters von der Neuwieder Bande [SCHWENKENsche Gaunerliste Nr. 348]. Georg Harting ist 1815 als Untersuchungshäftling in Marburg gestorben, Nikolaus Harting 1816 zu lebenslänglicher Eisenstrafe verurteilt worden, die er in Ziegenhain verbüßte. Ihnen und ihren Genossen wurden an in Hessen zwischen 1803 und 1811 verübten Taten nachgewiesen: 12 Fälle von Straßen raub und 136 z. T. gewaltsam mit dem Rennbaum ausgeführte Einbrüche. Nikolaus Harting gestand in Marburg die Teilnahme an 121 Räubereien und Einbrüchen, Georg Harting gab 133 derartige Fälle zu [SCHWENCKEN, Jüd, Gauner 127]. Zu der Bande gehörte auch der alte Neuwieder Räuber Adolf Weyers. Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
  2. Die „Niederhessische“ oder Diemelbande des Liborius Pollmann, vugo „Schwarzer Liborius“ [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 784] und des Johannes Stelzner, vulgo „Alter Drucker” [Ebda. Nr. 1024], (Er übte das ambulante Gewerbe eines Leinendruckers aus, daher der Beiname.) Der „Alte Drucker” aus Brotterode am Meißner war der Stifter und das eigentliche Haupt der Bande, die er dadurch zusammenhielt, dass er seine zahlreichen Töchter mit Gaunern verkuppeite. Auch die fünf Töchter ebenso wie seine Söhne, sind alle schwer kriminell. Von den Töchtern wird Wilhelmine 1812 zu 15 Jahren Zuchthaus, die „Schöne Gertrud” zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, die Tochter Christiane soll sich 1815 im Zuchthaus in Herford befunden haben, die Tochter Jakobine, genannt „Druckers Dickes“, ist dem Zuchthaus nur durch ihren frühzeitigen Tod in der Untersuchungshaft in Kassel entgangen. Der „Drucker” hatte mit 10 Jahren seinen Vater verloren, hatte dann sein Elternhaus verlassen, angeblich, weil ihn die Mutter schlecht behandelte, und das Gewerbe eines Papiermachers erlernt, bis ihn eine Teuerung zum Verlassen der Werragegend zwang. Er ließ sich als preußischer Soldat anwerben, desertierte von Wesel aus und trieb sich mit einer Landstreicherin, Gertrud Keller, Schwester eines hingerichteten Gauners namens „Stumpfhannes“ [SCHWENCKEN 562] umher. Nach verschiedenen Einbrüchen arretiert, wird er preußischen Werbern übergeben, nimmt als Soldat am Bayrischen Erbfolgekrieg von 1778 teil, geht dann als Kolonist nach Preußisch-Polen, kehrt 1781 zum Landstreicherleben zurück und wird 1801 in Braunschweig wegen eines in Watzum begangenen großen Silberdiebstahls zu 5 Jahren Eisenstrafe verurteilt, 1805 entlassen, kehrt er zu den Genossen seines Gaunerlebens zurück und begeht in kurzer Zeit zehn Raubtaten, verbunden mit den größten Gewalttätigkeiten. 1806 wird er mit einem Großteil seiner Bande auf der Bredelarer Hütte bei Marsberg festgenommen, erhält 1810 zehn Jahre Zuchthaus und wird anschließend den königlich–westfälischen Behörden zur Aburteilung seiner im Königreich Westfalen begangenen Taten überstellt.

Pollmann ist Sohn eines kleinen Bauern, selbst Bauernknecht, der durch seinen Umgang mit einer herumstreunenden Weibsperson, Annemarie Kreutz, Schwester des „Stachelköpfigen Mannes” [SCHWENCKEN 564], 1804 in die Kreise des „Alten Drucker” geraten ist. Er gehört zu den auf der Bredelarer Hütte Verhafteten. Die Mitglieder der Bande wurden teils in Marburg, teils in Kassel vor Gericht gestellt. Die Anklageurkunde vor dem Kriminalgerichtshof des Werradepartements in Marburg, der die folgenden Angaben entnommen sind, nennt außer Liborius Pollmann folgende Namen von Angeklagten:

Georg Weidemann aus Frauensee bei Vacha, vulgo „Weidenbaums Görg“,
Gilbert Eller aus Birklar, ein desertierter österreichischer Soldat,
Meyer Leyser, ein Handelsmann aus Marsberg,
Philipp Schäfer, Josef Noll, Johann Peter Müller, ein desertierter hessischer Soldat aus krimineller Familie, „Schwiegersohn” des Alten Drucker,
Konrad Wiese von Harmuthsachsen, vulgo „Rother Konrad“.

Der „Rothe Konrad” war 1802 nach einem Diebstahl ergriffen und österreichischen Werbern übergeben worden. Nachdem er dort desertiert war, ließ
er sich beim preußischen Regiment von Tschammer in Gardelegen anwerben, erhielt dort Urlaub, „um seinen Geschäften nachzugehen”, und schloß sich
der Druckerbande an. 1808 verübte er mit seinem Vater, dem „Rothen Josef”, einen Einbruch in Schachten. Der Vater hatte sich an dem in Schachten er-
beuteten Schnaps so betrunken, dass er sich auf dem Heimmarsch „den Hals abfiel”. Der Sohn warf die ihm lästige Leiche seines Erzeugers kurzerhand
in die Diemel.
Abraham Moses Levi aus Höringhausen (Herrschaft Itter), vulgo „Gäulafrömchen“”,
Leib Auscher Dokter aus Ziegenhain, ein Viehhändler (und Tierheilkundiger, daher der Beiname).

In Kassel wird Johannes Stelzner mit 16 Genossen vor Gericht gestellt, dazu außer den unmittelbaren Bandenmitgliedern noch eine große Zahl von
Gastwirten und Inhabern von Gaunerherbergen im Fuldadepartement. Die Anklage nennt als bevorzugte Schlupfwinkel der Bande: in Volkmarsen das
Wirtshaus zum Weißen Roß, in Warburg „Auf dem Keller“, in Peckelsheim das Gasthaus Zum Halben Mond, beim „Hüttenmann” in Dorf Blankenrode
bei Scherfede, auch Zwergen im Kreis Hofgeismar und Beverungen an der Weser, wo sich in jener Zeit an die 20 Gaunerherbergen befunden haben
sollen, sind berüchtigt.

Die Prozesse endeten mit hohen Zuchthausstrafen und einer Reihe von Todesurteilen, so gegen Liborius Pollmann, Johann Stelzner, „Gäulafrömchen”,
den „Stachelköpfigen Mannes”, Konrad Wiese und Georg Weidemann. Jedoch wurden Pollmann, Weidemann und Stelzner (der damals schon 70 Jahre
alt war) zu lebenslänglicher Eisenstrafe begnadigt. Stelzner gehört zu den 1813 aus dem Kasseler Stockhaus Ausgebrochenen. Er galt seitdem als ver-
schollen. „Gäulafrömchen“, der „Mannes” und Konrad Wiese wurden in Marburg enthauptet.

Unter den Verbrechen der Bande in Hessen sind hervorzuheben neben dem bereits erwähnten Straßenraub zwischen Löhlbach und Haina:

Am 25./26.01.1806 ein gewaltsamer Einbruch beim Pfarrer Schimmelpfeng in Hümme unter Führung Pollmanns und des „Alten Druckers“.

Am 20/21.02.1806 ein gewaltsamer Einbruch unter Verwendung des Rennbaums in der „Untersten Ölmühle” bei Naumburg im Kr. Wolfhagen, an
dem auch einige Mitglieder der Vogelsberger Bande (s. unten 6) teilnahmen. Die Müllersleute wurden durch die Räuber (Stelzner, Pollmann, Weidemann, der „Große Hannpeter”, Gilbert Eller, Konrad Wiese, Gäulafrömche, der nach Hessen verschlagene alte Neuwieder Mendel Polack und einige andere) aufs schwerste misshandelt.

Schon am 25./26.02.1806 unternehmen dieselben Teilnehmer eine Aktion mit dem Rennbaum gegen die Reichshofmühle bei Vacha, bei der ein Soldat der Vachaer Torwache, die die Räuber verfolgt, durch einen Schulterschuss verwundet wird. Man sieht auch hier an den weit voneinander entfernt liegenden Tatorten und der kurzen Zeitspanne zwischen zwei Taten die ungewöhnliche Beweglichkeit der Bande.

Auf einem Raub am 23./24.03.1806 bei dem Schulmeister in Ottersbach bei Burggemünden folgt am 25./26.03. der oben erwähnte Straßenraub zwischen Löhlbach und Haina. Es folgen am 16./17.04.1806 ein Einbruch bei dem Pfarrer in Welda bei Volkmarsen und am 17./18. 4. 1806 auf der Steinmühle
bei Rhoden.

Die der Verhaftung auf der Bredelarer Hütte entgangenen Bandenmitglieder überfallen am 14.09.1807 einen Handelswagen zwischen Züschen und Hadamar und begehen am 19./20.1808 einen Einbruch bei dem Kaufmann Feist Wallach in Ziegenhain, Dabei geriet zunächst ein Unschuldiger, der Schlosser Kress, in schwersten Verdacht, der Täter zu sein.

Am 08./09.07.1809 verüben Mitglieder der Bande einen gewaltsamen Einbruch bei Gumbert Levi in Altenstädt bei Naumburg, wobei das Haus mit dem Rennbaum gestürmt und der Überfallene durch Messerstiche schwer verletzt wird.

Eine Zusammenrechnung der in Hessen zwischen 1802 und 1810 von Angehörigen der Bande verübten Taten ergibt: 2 Morde (an dem Müllersehepaar in Vockerode am Meißner), 24 Fälle von Straßenraub und 92 Einbrüche, z. IT. unter Anwendung des Rennbaums begangen und mit schwersten, z. T.
lebensgefährlichen Misshandlungen der Hausbewohner verbunden. Das ist aber nur ein Teilausschnitt, der im angrenzenden Westfälischen und Hannöverschen begangene Taten nicht mit umfasst. 1812 befanden sich noch einige zwanzig Mitglieder der Bande in Freiheit, darunter die beiden berüchtigten alten Neuwieder Mendel Polack und Johann Wilhelm Meyer, vulgo „Kölscher Wilhelm [SCHWENKENsche Gaunerliste Nr. 671]

  1. Die Lumpensammlerbande des Anton Röttcher oder Röttgen [s. die Anklageurkunde gegen diese], genannt „Lumpensammler-Anton“. Anton Röttcher war der uneheliche Sohn eines Marburger Studenten und einer Landstreicherin Elisabeth Seim, vulgo „die Lumpenlies“, Die Bande hatte ihren Namen daher, dass sie hauptsächlich aus Lumpensammlern bestand, die teils ohne festen Wohnsitz waren, teils sich in der Umgegend von Marburg, in Mardorf, Beltershausen, Hof Schlagpfütze, Niederasphe, Brungershausen, Bottendorf, Kaldern, Halsdorf, Hatzbach und Rosenthal aufzuhalten pflegten, Ihr Revier war der Burgwald, ihr bevorzugter Treffpunkt die auch von Gaunern aus Neustadt, Kreis Marburg, frequentierte Hardtmühle zwischen Rauschenberg und Kirchhain. (Das Waldtal, das sich von dort nach Burgholz hinaufzieht, ist auf der Karte noch heute als „Diebstal“ bezeichnet.) Anton Röttcher und den 29 Genossen, die mit ihm 1813 vor dem Kriminalgerichtshof in Marburg stehen, sind insgesamt zur Last zu legen: 1 Mord, 5 Fälle von Straßenraub, 51 z. T. gewaltsame Einbrüche und Diebstähle. Anton Röttcher wurde zu lebenslänglicher Eisenstrafe verurteilt, die er in Ziegenhain verbüßte, Besonders abscheulich ist ein Überfall der Bande am 15./16.10.1808 auf das Haus des Hannjost Werner in Mornshausen durch 8 Mitglieder der Bande unter Mithilfe des „Kölschen Wilhelm”, dessen Einzelheiten in der Anklageurkunde gegen die Bande beschrieben sind.
  2. Verhältnismäßig harmlos nimmt sich demgegenüber die Diebesbande des Konrad Koch, vulgo „Eierheinrichs Konrad“ aus Marburg [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 512] aus. Bei ihrer Aburteilung in Marburg 1817 wurden ihr nur 22 zwischen 1809 und 1812 verübte Diebstähle nachgewiesen. Konrad Koch wurde zu zehnjähriger Eisenstrafe verurteilt.
  3. Die Spessart- und Odenwaldbande des Hölzerlips [Über sie s. PFISTER und BRILL]. Der Hölzerlips, eigentlich Johann Philipp Lang, von umherziehenden, aber selbst nicht kriminell auffällig gewordenen Eltern stammend, ist in den Untersuchungsakten [PFISTER 53] so charakterisiert: „Kein ungebildeter Kopf, von großer Leibesstärke, grausam, boshaft und jähzornig, ein Haupträuber”. Unverkennbar gehört auch Eitelkeit zu seinen Eigenschaften. Während er 1812 im Zuchthaus zu Mannheim seiner Aburteilung entgegensieht, beschwert er sich über die zu schwere Kette, die man ihm angelegt hat. Als man ihm sagt, ein so großer Bahnherr und Balmasematten wie er könne doch nicht mit den leichteren Ketten seiner untergeordneten Genossen gefesselt werden, ist er sichtlich geschmeichelt und beruhigt sich schnell [PFISTER 201].

Ein anderes hervorragendes Mitglied der Bande ist Johann Adam Heußner, vulgo „Dicker oder Rother Hanadam“”, oder „Kleiner Samel” [SCHWENKENsche Gaunerliste S. 559] (1814 in Darmstadt gehängt). Seine verbrecherische Aktivität wird beleuchtet durch den Umfang dessen, was er selbst bei seiner Vernehmung angibt. Er hat nicht weniger als folgende Taten eingestanden: Die Teilnahme an 6 gewaltsamen Aktionen mit dem Rennbaum, bei denen in allen Fällen die Opfer schwer misshandelt wurden, 2 Morde, 35 Fälle von Straßenraub und 76 gewöhnliche Einbrüche und Diebstähle, begangen zwischen 1803 und 1809. Er erklärt dann treuherzig, er habe nach bestem Wissen alles angegeben, woran er sich noch erinnern könne. Man könne aber von ihm nicht verlangen, dass er noch jede Einzelheit seiner Verbrecherlaufbahn im Gedächtnis habe [BRILL 42]. Er war früher auch vorübergehend — „studienhalber” — Mitglied der Schinderhannesbande gewesen, hielt aber von Schinderhannes nicht viel und bezeichnete ihn als feige [BRILL 225].

In der Spessartbande tauchen noch eine Reihe weiterer ehemaliger Mitglieder der Schinderhannesbande auf, die linksrheinischer Verfolgung entgangen sind: u. a. Josef Weber, vulgo „Kleiner Krug-Josef“ [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 1122], ein desertierter österreichischer und kurhessischer Soldat, Wilhelm Wittmann, vulgo „Lorenzen Peter“ [Ebda. Nr. 1168], ein Wandermusikant und Händler mit irdenem Geschirr, Johann Adam Hofmann, vulgo „Großer oder Peter Henrichs Hanadam“ [Ebda. Nr. 407] (sitzt seit 1812 im Zuchthaus von Bicetre bei Paris), Knöpp-Äntons Hanadam [Ebda. Nr. 447] und vor allem Peter Petry, vulgo „Schwarzer Peter”. Zur Zeit seines Aufenthalts bei der Spessartbande war er schon alt, seine verbrecherische Aktivität daher gemindert, Er lebte im Odenwald als Kohlenbrenner, riskierte hin und wieder noch einen kleinen Einbruch, nahm auch an einigen Straßenräubereien der Bande teil, sonnte sich aber im übrigen in dem Ansehen, das ihm sein alter Ruhm und seine reiche Räubererfahrung vor allem beim Nachwuchs der Bande verliehen. In seiner Blütezeit muss er — ein riesenhaft gewachsener, schwarzbärtiger Kerl, nach der Beschreibung, die Becker [Becker I Abschn. 2, 5. 6 ff.] von ihm gibt, ein wahres Untier gewesen sein, trunksüchtig und vor allem unter
Alkoholeinfluss zu jeder Grausamkeit und Gemeinheit fähig, aber gelegentlich auch nicht ohne Züge einer gewissen Gutmütigkeit und sentimentalen Rührseligkeit. Er kam von der Moselbande des Philipp Ludwig Mosebach [Über diese s. Becker I Abschn. 1, S. 10 ff.] her und hatte sich nach deren Zerschlagung durch die französischen Behörden zunächst dem Schinderhannes angeschlossen. 1799 hatte er in Simmern in Haft gesessen und war dort entwichen. Er hatte mit der Eisenkette, mit der man ihn gefesselt hatte, seinen Aufseher niedergeschlagen und war dann durch das ausgebrochene Fenster seiner Zelle fünf Meter tief in die Freiheit gesprungen.
Unterwegs fand er einen gefälligen Schmied, der ihn von der Kette befreite, und hatte sich dann in den Odenwald begeben, wo er — abgesehen von einer
nochmaligen kurzen Gastrolle 1800 im Hunsrück — blieb. Nach seiner 1812 erfolgten endgültigen Ergreifung wurde er, da der Schwerpunkt seiner Taten
im linksrheinischen Gebiet lag, den französischen Behörden ausgeliefert. Da viele seiner Taten nach den kurzen Fristen des Code penal verjährt waren,
erhielt er nur lebenslänglich Zuchthaus. Im Zuchthaus von Bicetre ist er bald darauf am Säuferwahnsinn gestorben.

Zu den Verbrechen der Bande zählt der oben der unter VI 3. bereits erwähnte Überfall am 02./03.02.1809 im Walde bei Mittelgründau. Teilnehmer waren unter anderem der Dicke Hanadam, sein Bruder, der „Langbeinigte Steffen” [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 560] (1811 in der Untersuchungshaft in Heidelberg Selbstmord begangen), der „Dicke Bube“ [SCHWENCKEN 26] (1812 in Braunschweig enthauptet), der „Große Samel” [Ebda, 557] (1814 in Darmstadt gehängt) und der Hessenmartin. Die Räuber hatten in der Nacht Schottener Tuchmachern aufgelauert, die vom Markt in Gelnhausen zurückkehren sollten. Als sich in der Dunkelheit ein Frachtwagen näherte, schlugen sie dem einen der begleitenden Fuhrleute mit Knüppeln den Schädel ein, der zweite wurde schwer verletzt. Als sie dann entdeckten, dass sie an eine Fuhre mit Glassachen geraten waren, mit denen sie nichts anfangen konnten, schlugen sie aus Wut die gesamte Ladung entzwei [s. die Darstellung bei PFISTER 111]. Am 08.01.1811 überfällt der Hölzerlips mit Johann Werner, genannt „Wuttwuttwutt“, und noch zwei Genossen einen Reisewagen zweier französischer Offiziere auf der Straße zwischen Wirtheim und Gelnhausen. Die Offiziere ergriffen unter Zurücklassung ihres gesamten Gepäcks die Flucht. Am 25. 1. 1811 unternimmt die Bande unter Führung des Hölzerlips einen Einbruch in das Kurhaus von Wilhelmsbad bei Hanau. Dabei werden 78 Flaschen Malaga mitgenommen. Ein Ohmfaß Niersteiner, dessen Geschmack ihnen anscheinend nicht zusagt, lassen die Gauner aus purem Mutwillen auslaufen.

Auch Hölzerlips neigte, wie viele Gauner, zum Trunk. Bei einem Einbruch in Berkersheim bei Frankfurt am 04./05.08.1809 gemeinsam mit dem „Alten
Vielmetter” von der Vogelsberger Bande wäre ihm das beinahe zum Verhängnis geworden. Die Räuber waren in dem Haus, in das sie sich eingeschlichen
hatten, an Schnaps geraten und hatten sich so sinnlos vollgetrunken, dass sie den Rückzug nicht mehr fanden. Die durch die Hausbewohner herbeigerufene
Streife konnte am nächsten Morgen die besinnungslos auf dem Fußboden einer nahegelegenen Herberge schnarchenden Gauner aufsammeln. Hölzerlips
brach allerdings in Bergen, wohin sie verbracht worden waren, sofort wieder aus, während es für den Vielmetter das Ende seiner Laufbahn bedeutete.

Eingehend geschildert ist bei PFISTER [PFISTER 121] der Überfall auf die Aumühle bei Eckweisbach in der Rhön am 05./06.03.1808 durch 9 Mitglieder der Bande, unter anderem den Hanadam, Georg Schmidt, genannt „Würzburger Schneider“ oder „Tanzstoffel”, und Johann Kraut, auch Krämers Hanneschen ge-
nannt, vulgo „Eselskinnbäckgen” [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 506]. Die Räuber hatten sich vor dem Überfall auf der Beckenmühle bei Wüstensachsen gesammelt, deren Bewohner kochem waren. Die Ausführung des Raubes ist das Musterbeispiel einer gewaltsamen Aktion mit dem Rennbaum und ihre Schilderung hört sich selbst in der nüchternen Sprache eines Auszugs aus den Gerichtsakten dramatisch genug an.

Ähnlich geht es zu bei zwei von BRILL [BRILL 46 und 55] näher geschilderten gewaltsamen Überfällen. Der eine richtet sich unter Führung des Dicken Hanadam und unter Teilnahme des alten Neuwieders Mendel Polack am 03.08.1807 gegen die Mühle zu Breitenborn bei Gelnhausen. Bei dem Überfall werden alle Hausbewohner durch Knüppel- und Säbelhiebe schwer verletzt. Der andere Überfall trifft am 01.09.1807 die Mühle von Oberliederbach bei Höchst; Auch hier beteiligen sich wieder neben dem Dicken Hanadam Mendel Polack und als weiteres, besonders berüchtigtes Mitglied der alten Neuwieder Bande Itzig Schnut, auch „Muck“ genannt [Über ihn s. ausführlich Schwencken, Jüd. Gauner 221]. Die Türen werden unter französischen Flüchen und Kommandos eingestoßen, die Hausbewohner gefesselt und auf das grausamste gefoltert (u. a. hält man ihnen die mitgebrachten, brennenden Kerzen unter das Gesäß), damit sie die Verstecke der Wertsachen im Hause angeben.

Die Tatsache, dass besonders häufig Mühlen das Ziel solcher gewaltsamer Angriffe sind, erklärt sich unschwer daraus, dass man bei dem Müller als einem Gewerbetreibenden am ehesten den Besitz von Bargeld erwartet und dass die Mühlen mit ihrer meist vom Dorf abgesonderten Lage sich als Objekte eines Überfalls geradezu anbieten.

Insgesamt wurden der Bande, die zum größten Teil 1812 in Heidelberg abgeurteilt wurde, nachgewiesen 2 Morde und 152 Fälle von Straßenraub und
z. T. mit offener Gewalt begangenen Einbrüchen, deren Tatorte teils im südlichen Hessen, teils in den angrenzenden fränkischen und badischen Gebieten
liegen. Der Hölzerlips und 3 seiner Genossen wurden enthauptet, die anderen erhielten langjährige bis lebenslängliche Zuchthausstrafen. Weitere Mitglieder
wurden 1814 in Darmstadt gehängt.

  1. Die Vogelsberger und Wetterauer Banden: Ihr Hauptvertreter ist Johann Heinrich Vielmetter, vulgo „Alter Jakob Heinrich“ [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 1070], aus einer alten, vielfach kriminellen Gaunerfamilie. Auch seine 3 Brüder und deren Nachkommen sind alle in erheblichem Maße kriminell auffällig geworden. Die weiblichen Mitglieder der Familie sind sämtlich Diebinnen und zugleich Prostituierte. GROLMANN, der sich als erster eingehender um eine psychologische Charakterisierung der Gauner, mit denen er zu tun hat, bemüht, charakterisiert ihn als boshaft und hinterlistig [GROLMANN 232]. Seine Brutalität beweist seine Teilnahme an der oben VI 3. erwähnten Ermordung des Hundsvelten (GROLMANN schreibt anschaulich: „Es quietschte schauerlich”, nämlich als die Gauner mit Messern auf den Hundtsvelten einstachen).

Andere Mitglieder der Bande sind: Jonas Hoos von Reptich im Kreis Fritzlar/Homberg [SCHWENCKENsche Gaunerliste S. 561], wo sein Vater ein angesehener Mann und Dorfgrebe war (“Feig, grausam und schadenfroh; sein höchster Genuß ist die Freude über das Unglück anderer.”) Abraham Moses oder Raphael Gottschling, vulgo „das getaufte Jüdchen” „tückisch, scharfsinnig, leichtsinnig, verwegen, lügenhaft”).

Johann Justus Dietz, vulgo „Lumpenjost” [Ebda, S. 553], der „Schwarze Jung” („verdorben, grausam, schadenfroh, boshaft und verlogen”), Johann Adam Steininger, vulgo „Überrheiner Hanadam [Ebda. S. 1014] (1810 von Marburg nach Frankreich ausgeliefert, als ehemaliges Mitglied der Schinderhannesbande lebenslängliches Zuchthaus in Bicetre), Polengängers Hannes [Ebda. S. 552], auch „Mahnenhannes” oder „Katzenschinder“ genannt und Polengängers Michel (eigentlich Borgener) [Ebda. Nr. 90]. Im ganzen nennt die Grolmannsche Liste der Bande 166 Namen.

Einer ihrer beliebten Schlupfwinkel ist der Krughof bei Steinau in der Nähe der Straße nach Bellings. Auch GROLMANN gibt von dieser durch ihn
beschriebenen Bande die exemplarische, genaue Schilderung einer Aktion mit dem Rennbaum. Hier ist es die Hehrmühle bei Berndshausen Amts Schlitz, die
am 24./25.10.1809 heimgesucht wird [GROLMANN 555 ff]. Unter den Räubern ist „Kanngießers Hannes”, richtig Johann Denst oder Johann Hartmann aus Unteralba im Fuldischen [Schwenckensche Gaunerliste Nr. 168 bzw. 355], ein ehemaliges Mitglied der Schinderhannesbande. Unter den 15 Teilnehmern des Überfalls befanden sich auch einige thüringisch-fränkische Gauner und Mitglieder einer Bande aus dem Grabfeld, Wilhelm Heinrich Burkhard [Ebda. Nr. 134], Leonhards Hangörge [Ebda Nr. 246], der Grabfelder Hanadam [Ebda Nr. 562], der sogenannte „Schneckenjäger” [Ebda Nr. 631], der „Neustädter Hannes”, Simon Paul, vulgo „Butternickels Simme“ [Ebda Nr. 766], der „Schwarze Johann“ [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 451] und Johann Adam Mangold [Ebda. Nr. 641], vulgo „Kleiner Butternickels Junge“.

Angehörige der Wetterauer Bande unternehmen im August 1804 mit den Brüdern Harting von der „Großen Bande” (s. IX 1) einen gewaltsamen Einbruch in Barterode bei Dransfeld bei dem Krämer Lösekrug. Dabei hatte man wie üblich die Hausbewohner gefesselt auf dem Fußboden abgelegt und Bettkissen über sie geworfen, damit sie niemand von den Räubern erkennen sollten. Als die alte Frau des Lösekrug sich nicht mehr rührte, hob einer der Gauner das Kissen von ihrem Gesicht und fragte „teilnahmsvoll”: Frau, bist du tot?” Die alte Frau stellte sich geistesgegenwärtig so, als sei sie wirklich gestorben und entging so weiteren Misshandlungen. Ende 1811 hat man die Bande im wesentlichen hinter Schloss und Riegel. Der Alte Vielmetter wird 1812 in Gießen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, Jonas Hoos, Johann Justus Dietz, Polengängers Hannes und der sogenannte Heidenpeter [Ebda. Nr. 556] werden enthauptet, andere Bandenmitglieder erhalten lebenslängliche oder langjährige Zuchthausstrafen.

Insgesamt wurden der Bande zur Last gelegt: 13 Morde, 80 Fälle von Raub, 245 Einbrüche und 241 einfache Diebstähle, im Wesentlichen begangen zwischen 1804 und 1811.

Bei allen mitgeteilten Erfolgsziffern der verschiedenen Banden ist zu bedenken, dass damals sicherlich die sogenannte Dunkelziffer, das ist die Zahl der unaufgeklärten Straftaten, die auch heute trotz verfeinerter kriminalpolizeilicher Ermittlungsmethoden sich auf etwa 30 % aller Delikte hält, noch weit höher gewesen ist als heute, so dass die mitgeteilten Zahlen wohl nur einen Teil der Tätigkeit der Banden erfassen.

  1. Das Bild der Unsicherheit auf dem Lande, das sich aus der Übersicht über die Tätigkeit der in Hessen wirksamen Banden ergibt, wird abgerundet durch den Hinweis auf die Orte und Gegenden, die außer den bereits bei den einzelnen Banden genannten in Hessen in jener Zeit als Gaunerquartiere berüchtigt sind. SCHWENCKEN [SCHWENCKEN 59] nennt: Melgershausen (Kreis Melsungen), Kassdorf bei Homberg a. d. Efze, Eiterhagen, Römersberg bei Borken, Dohrenbach im Kreis Witzenhausen, einzelne Häuser in Wilhelmshausen an der Fulda, Eltmannshausen und Datterode, Ellershausen, Rasdorf (Kreis Hünfeld), Herfa, Widdershausen und Heringen an der Werra, Kleinensee und Großensee bei Vacha, Stadthosbach, Mönchhosbach, Berneburg b. Sontra, Arnsbach,
    Reichenbach, Pfieffe, Bosserode und einzelne Häuser in Harleshausen bei Kassel. Die „Ergebnisse einer von dem Großherzoglich-Sächsischen Kriminals
    gericht geführten Untersuchung hinsichtlich des Gaunerwesens“ [Von Kriminalrichter Dr. BISCHOFF 1830] zählen speziell für das hessische Grenzgebiet an der Werra auf: „Wenn man von Großensee nach Rasdorf geht, kommt man an eine Mühle, welche rechter Hand liegt.” Gleich hinter der Mühle sei ein versteckter Lagerplatz und Treffpunkt für Gauner. Von Dankmarshausen die Werra entlang sei Buschwerk, „wo — nach der Bekundung eines verhafteten Gauners — im Sommer immer Kameraden sitzen“. Gaunerschlupfwinkel seien auch in den Hirtenhäusern bei Herleshausen, Widdershausen und Willershausen. In Kleinensee sei fast jedes Haus „kochem“”, ebenso sei das Landecker Amt (um Friedewald) ein „Diebsparadies”. Auch Motzenrode und Weißenborn bei Eschwege und Zwesten sind nach SCHWENKEN beliebte Gaunertreffpunkte und -schlupfwinkel. Die acta generalia betreffend Verordnung der gegen Gauner, Bettler und Vagabunden zu ergreifenden Maßregeln 1822—1837 [StAM Bestand 17 g Gef. 39 Nr. 1] erwähnen auch das Haus des Wilhelm Johann in Elgershausen und das des Lumpensammlers Kreutz in Großalmerode, in den Berichten über die Spessartbande erscheint wiederholt der Sparhof bei Motten in der Rhön als beliebter Schlupfwinkel.
  2. Angesichts der völligen Amoralität der Gauner, der bei ihnen vielfach anzutreffenden stumpfen und primitiven Rohheit, der nicht selten in Erscheinung
    tretenden Grausamkeit und ihrer hemmungslosen, tierischen Genusssucht ist es eine auffällige Erscheinung, dass Sexualdelikte unter ihren Straftaten verhältnismäßig selten vorkommen. Auch wenn die Gauner sich in einem überfallenen Hause über eine Stunde und länger aufhalten, und die ärgsten Grausamkeiten gegen die Bewohner begehen, werden die weiblichen Hausgenossen zwar ebenso misshandelt wie die anderen, aber sonst nicht weiter angetastet.
    BECKER [BECKER II, 7, 47] erwähnt unter den Verbrechern der Brabanter und Mersener nur einen einzigen — nicht in Hessen geschehenen — Fall von Notzucht, bei dem Jan Bosbeck der Täter ist. Unter den Taten der hessischen Banden findet sich in einem großen Material von annähernd 2000 Straftaten zwischen 1800 und 1815 ebenfalls nur ein einziger Fall dieser Art, begangen durch Polengängers Hannes von der Vogelsberger Bande gelegentlich eines Straßenraubs in der Nähe des Kinzigheimer Hofs bei Hanau [GROLMANN 398]. Diese Erscheinung beschränkt sich nicht auf Hessen. Auch SCHÄFFER kann aus seiner großen Erfahrung nur einmal von Sexualdelikten berichten: 1790 die Plünderung eines Nonnenklosters im Fürstenbergischen durch die Bande des Bayernsepps, bei der einige Nonnen vergewaltigt werden [SCHÄFFER 55]. Wenn SCHÄFFER aaO. 5. 9 anmerkt, die meisten Gewaltverbrecher in Schwaben kämen aus Bayern, da die Bayern dergleichen von ihrer Heimat her gewohnt seien, so ist das ein erheiternder Beitrag zur Rivalität deutscher Stämme.

Etwas häufiger, aber immer noch auffallend selten, finden sich unter dem allgemeinen Begriff „Misshandlungen” zusammengefasst Handlungen, die man heute, soweit sie sich gegen Frauen richten, als „gewaltsame Vornahme unzüchtiger Handlungen” (§ 176 Ziff. 1 StGB) rechtlich qualifizieren würde.
Relativ am häufigsten scheint sich das bei den Brabantern bzw. den Neuswiedern zu finden. Wenn es von ihnen heißt: „ubera mulierum vel membra
virorum arripientes praecidere minitabantur”, dann hat dieses Vorgehen zwar — auch — zum Ziel gehabt, Angaben über versteckte Wertsachen zu erpressen, aber dabei ist der objektiv unzüchtige Charakter der Handlung so eindeutig und unverkennbar, dass schwerlich anzunehmen ist, die Täter seien subjektiv frei von unzüchtigen Absichten gewesen, Die Formulierung „minitabantur” spricht im Übrigen dafür, dass sie so vorzugehen pflegten. Bei einem anderen von Becker berichteten Einzelfall [BECKER II, 11, 29] (Auspeitschung überfallener Frauen durch Picard und seine Genossen) scheint es sich um eine Handlung ausgesprochen sadistischen Charakters gehandelt zu haben.

In den Berichten über die hessischen Banden der Zeit zwischen 1798 und 1815 sind nur zwei hierher zu rechnende Fälle zu finden. Als Gauner der Spessartbande unter Beteiligung des „Usenborner Lips”, (recte Johann Philipp Widderspann, ein desertierter hessischer Soldat [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 1147] von der Vogelsberger Bande am 03.06.1808 zwischen Usenborn und Neuhof einen Handelsmann überfallen, wird die in dessen Begleitung befindliche Tochter von dem Usenborner Lips unzüchtig angegriffen („auf das brütalste betastet“) [GROLMANN 358 und BRILL 93]. Ähnlich wird auch die Frau des Försters Lamm im Dahlherdaer Forsthaus am Dammersfeld behandelt bei einen Überfall durch Angehörige der Spessartbande, unter anderem Johann Adam Wehner, „Tanzstoffel”, und den „Überrheiner Wilhelm”, bei dem die Räuber sich von 20 Uhr bis 1 Uhr in dem einsam gelegenen Forsthaus aufhalten und dem Branntwein des Försters zusprechen [BRILL 409].
Mehr als diese beiden Fälle sind unter den Straftaten der hessischen Gauner nicht zu finden. Allenfalls kann man noch die bei GROLMANN [GROLMANN 277] berichtete Szene hierher rechnen, bei der der „Schwarze Jung” eine Magd mit einer Schusterahle attackiert, wenn es sich hierbei nicht um einen — allerdings ungewöhnlich rohen — „Scherz“ gehandelt hat.

Eine Erklärung für dieses bemerkenswerte Phänomen ist vorläufig nicht zu geben. Mit der Spezialisierung des modernen Berufsverbrechers, die in jener
Zeit allenfalls beginnt, hat sie wohl nichts zu tun. Bei den Gaunern findet sich noch kein Beleg für die heutige Einstellung eines alten „Schränkers”(das ist
Berufseinbrecher), der sich selbst im Grunde für einen ganz rechtschaffenen Mann hält und der im Zuchthaus auf den „Sittenstrolch” in der Nachbarzelle
mit Verachtung hinabsieht. Möglich, aber keineswegs sicher, dass die Abhängigkeit einer Strafverfolgung wegen Notzucht von einem Strafantrag der betroffenen Frau (nach kurhessischem Strafrecht noch bis 1866), die Furcht vor Kirchenbußen oder sonstigen öffentlichen Unannehmlichkeiten, falls die Ge-
walt nicht bewiesen werden konnte, dabei eine Rolle gespielt und das Bekanntwerden solcher Handlungen verhindert hat.


X.
  1. Mit dem Zusammenbruch des Kurstaates 1806 und der Ausdehnung des französischen Machtbereichs auf das rechte Rheinufer im Gefolge der Ereignisse der Jahre 1806/07 etabliert sich auch im Raum des neugegründeten Königreichs Westfalen eine modern organisierte Staatsgewalt nach französischem Muster. Auch hier wird alsbald, ebenso wie im linksrheinischen Gebiet, eine schlagkräftige Gendarmerie nach französischem Muster eingerichtet.
    Der westfälische Staat hat sich der Verbrechensbekämpfung mit Nachdruck angenommen, ist allerdings bis zu seinem Ende damit beschäftigt gewesen.
    Dass er damit Erfolge hat, zeigen nicht nur die oben erwähnten Strafverfahren gegen die Niederhessische, die Lumpensammler- und andere Banden, sondern unter anderem auch der Umstand, dass beispielsweise allein bei Razzien in den ersten sieben Monaten des Jahres 1812 von der königlich-westfälischen Gendarmerie 570 Diebe und 1127 Gauner dingfest gemacht werden können [MÜLLER 86], ein zahlenmäßiger Erfolg, der in der vorhergehenden Periode nie erreicht worden ist.
  2. Um 1815 ist mit dem Ende der Napoleonischen Zeit und der Wiederkehr politisch und wirtschaftlich einigermaßen stabiler Verhältnisse die große Zeit
    des vagierenden, bandenmäßigen Gaunertums vorbei. Wie alle deutschen Staaten bemüht sich auch das wiedererstandene Kurfürstentum Hessen, seine
    Polizei zu verbessern. 1815 wird zunächst speziell für polizeiliche Aufgaben ein Landdragoner-Regiment gegründet, dessen Schwadronen, über das Land
    verteilt, den Zivilbehörden auf Requisition zur Verfügung stehen. Das ist zwar noch nicht die ideale Lösung. 1821 aber wird im Gefolge des Organisations-
    Edikts, das dem Lande eine den modernen Bedürfnissen angepasste Staatsverwaltung gibt, eine Gendarmerie-Brigade geschaffen, die etatmäßig zwar
    zum Kriegsministerium gehört, deren Abteilungen im Lande aber den Polizeidirektionen der Provinzialregierungen in Kassel, Marburg, Hanau und Fulda direkt unterstellt sind. Damit ist endlich eine moderne und schlagkräftige, den Bedürfnissen der Verfolgung des vagierenden Gaunertums angepasste Polizei geschaffen.

Dass man allerdings auch jetzt noch bisweilen Schwierigkeiten mit ungeeigneten, lokalen Polizeiorganen hat, zeigt die Aufdeckung einer großen, organisierten Diebesbande in Kassel im Jahre 1816, die ihren Unterschlupf und ihr Hauptquartier in der Wohnung des städtischen Polizeiagenten Theiß hat [SCHWENCKEN, Jüd, Gauner 4, 5ff.]. Bemerkenswert ist, dass der Bande 3 alte Neuwieder angehören, Wolf Josef [Ebda. 77], Sabel Zinkhausen [Ebda. 356] und Markus Keßler, vulgo „die geschmückte Puppe“ [Ebda. 274]. Jedoch hat die Neuwieder Terrorpraxis sich den städtischen Verhältnissen und wohl auch den in Wandlung begriffenen Zeitläuften anpassen müssen, Die Bande arbeitet heimlich und mit List. Anstelle der früheren gewaltsamen Überfälle nehmen Betrügereien in ihrer Tätigkeit einen breiten Raum ein. Die Unterstützung, die ihre Tätigkeit durch einen Polizeibeamten fand, hatte Kassel seit 1814 in Deutschland den Ruf eines lohnenden Arbeitsgebiets für Gauner verschafft, so dass sich in der Bande eine große Anzahl Gauner aus ganz Deutschland zusammenfand. Die Bande wurde 1816 ausgehoben, ihre Mitglieder verschwanden auf lange Jahre im Zuchthaus.

Nicht polizeiliche Maßnahmen allein sind jedoch entscheidend dafür, dass es allmählich gelingt, der Pest des Gaunertums Herr zu werden. Der wesentliche Anteil am Erfolg ist der eingetretenen Änderung aller jener Verhältnisse zuzuschreiben, die das Gaunerwesen früher begünstigt haben. Die vielen leistungsunfähigen Zwergterritorien in Deutschland sind verschwunden. Von unwesentlichen Ausnahmen abgesehen, sind in Deutschland nach den Stürmen der Napoleonischen Zeit nur Staaten übrig geblieben, die nicht nur zu kräftigen sicherheitspolizeilichen Maßnahmen, sondern auch zu einer wirksamen Verbrechensprophylaxe fähig sind. Die Praxis der Landesverweisung ist endlich als schädlich erkannt und wird abgestellt. Es gibt seit der Änderung des Wehrsystems keine Soldaten mehr, die abgedankt und unversorgt auf der Straße liegen; gleichzeitig hat auch der gemeine Soldat eine neue Ehre
und soziales Ansehen bekommen. Die Judenemanzipation beseitigt die Ursache der starken jüdischen Beteiligung an den Banden der letzten Jahrzehnte.
Die gutsherrliche Patrimonialgerichtsbarkeit, die sich schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als ein dem Aufbau einer straffen Staatsverwaltung hinderliches, mittelalterliches Relikt erwiesen hatte und zu einer Quelle vielfältiger Korruption geworden war, war in Hessen schon in der westfälischen Zeit abgeschafft worden und blieb auch nach 1815 abgeschafft.
Nur in den standesherrlichen, 1815 mediatisierten Gebieten, wie denen der Fürsten Isenburg, hat sie sich eingeschränkt noch bis 1848 erhalten. Mit der
Einkehr stabiler Geldverhältnisse schwindet die Neigung, größere Summen zu Hause zu horten oder sein Geld in zu Hause aufbewahrten Wertsachen anzulegen, Die Einbrüche werden weniger lohnend. Der zunehmende Bau von Kunststraßen erleichtert die polizeiliche Kontrolle des Landes. Im Verein mit
besseren Fürsorgemaßnahmen kann so auch der Wanderbettel bekämpft werden. Die Einführung der Eisenbahnen endlich zieht den großen Frachtverkehr
von der Landstraße ab. Das alles wirkt zur Lösung des Problems zusammen.

Wie mit dem Gefühl, dem Gaunerwesen nach und nach gewachsen zu sein, allmählich rechtsstaatliche Erwägungen auch in der Bekämpfung des
Gaunertums Eingang finden und gegenüber früher eine leidenschaftslosere Behandlung des Problems Platz greift, zeigt an einem Beispiel das Verhalten
des Justizamts Volkmarsen im Jahre 1823 [StAM Bestand 17 g Gef. 39/1]. Das Justizamt weigert sich in einem Strafverfahren gegen einen der Zugehörigkeit zu einer Gaunerbande Verdächtigen, die schriftlichen Berichte von Polizeispitzeln belastend zu verwerten, verlangt deren Aussage in öffentlicher Sitzung und erhält für diese Einstellung gegenüber der Polizei, die ihre Helfer nicht bloßstellen und damit entwerten möchte, die Billigung der vorgesetzten Justizverwaltung.

  1. Was sich in den nächsten Jahrzehnten nach 1815 noch an Gaunerkriminalität zeigt, sind Nachwehen, an Gefährlichkeit der der früheren Banden
    nicht mehr zu vergleichen. Einer der schwereren Fälle ist noch der im Hessischen Volkskalender von 1903 beschriebene „Postraub in der Subach“: Ein
    Geldtransport der Post von Gladenbach nach Gießen wird am 19. 5. 1822 in einem Hohlweg bei Mornshausen von acht Kerlen überfallen und ausgeplündert, wobei 10 500 Gulden erbeutet werden. Die Täter waren mehrere, bereits als Wilddiebe berüchtigte Einwohner von Kombach bei Biedenkopf, die einen Kameraden des den Transport eskortierenden Soldaten dazu gewonnen hatten, vor der Abfahrt heimlich die Flinte des Wachmanns zu entladen.
    Die Täter wurden ein halbes Jahr nach der Tat ermittelt, nur einem gelang die Flucht ins Ausland, zwei begingen im Gefängnis Selbstmord, fünf wurden in Gießen enthauptet.

Die Behörden, denen noch der Räuberschrecken früherer Zeiten in den Gliedern stecken mag, fallen leicht auf blinden Alarm hinein. So meldet die
Polizeidirektion in Hanau am 08.12.1826 [StAM Bestand 24 d Nr. 24], zwischen Mainz und Gießen streife eine 500 (!) Mann starke Räuberbande, was eine fieberhafte Korrespondenz der Kurfürstlichen Oberpolizeidirektion in Kassel mit den Polizeibehörden in Butzbach, Gießen, Frankfurt und Mainz auslöst. Tatsächlich ist von Räuberbanden nichts festzustellen. Den Kern der aufgeregten Meldung gibt wohl ein Bericht des Frankfurter Polizeiamts an das Großherzoglich-Hessische Kriminalgericht in Darmstadt vom 06.10.1826 [Ebda.] wieder über einen Herumtreiber Karl August Hensler aus Heppenheim und 51 weitere, die in Frankfurt in Untersuchungshaft sitzen. Dabei handelt es sich nur um arbeitsfähige Bettler, kleine Diebe, herumziehende betrügerische Kartenspieler, letztere besonders wandernde Schuhmacher, und um „Flebbenmelochner”, das sind Leute, die wandernden Handwerksburschen gefälschte Papiere anfertigen. Auffallend ist, dass fast alle in Frankfurt Einsitzenden jünger als 24 Jahre sind, Das sind allenfalls Elemente, aus denen sich unter begünstigenden Umständen und bei entsprechender Schwäche der Staatsgewalt wieder Räuberbanden bilden könnten.

Ebenso wenig auf eine ernsthaft Gefahr zu deuten scheint eine Mitteilung der Fürstlich-Waldeckischen Regierung in Arolsen von 1822 [StAM Bestand 24 d Nr. 22] an die Regierung in Kassel. Es wird dort berichtet von einer 30-40 Mann starken Gaunerbande, die „Rübenkönigs-Bande” genannt, die mit Schusswaffen und Messern versehen, Pferde, Esel, Hunde und Ziegen mit sich führend, in den Wäldern an der hessisch-waldeckischen Grenze kampiere. Gemeinsame Nachforschungen der hessischen und waldeckischen Behörden führen zu keinerlei Ergebnis. Die Mitführung von Pferden und Ziegen lässt darauf schließen, dass es sich bei der Bande, wenn sie existiert hat, nicht um eine eigentliche Diebesbande, die sich kaum mit mitgeführtem Vieh belastet haben würde, sondern um einen wandernden Zigeunerstamm gehandelt hat.

In demselben Aktenstück, in dem der Bericht über die Rübenkönigsbande enthalten ist, erscheint zum letzten Mal ein „großer“ Name aus der vor-
hergehenden Periode des Gaunerwesens. Am 25. 4. 1823 meldet sich der Ziegenhainer Zuchthausgefangene Andreas Störmer [SCHWENCKENsche Gaunerliste Nr. 1030] (1809 in Kassel zu 15jähriger Eisenstrafe verurteilt, im Herbst 1813 aus dem Kasseler Stockhaus entwichen, aber danach wieder eingefangen), er habe eine wichtige Mitteilung zu machen. Obwohl seine Erklärung, er wolle in Ziegenhain nichts Näheres sagen und er bitte, zu diesem Zweck nach Marburg überführt zu werden, von vornherein geeignet ist, Misstrauen zu erwecken (Zuchthäusler beleben gern, indem sie die Kenntnis von für die Behörde wichtigen Tatsachen vorgeben, die Eintönigkeit ihres Zellendaseins durch eine kleine Reise auf Staatskosten) wird ihm willfahrt. In Marburg erzählt er dann, er habe von Mitgefangenen gehört, der „Kölsche Wilhelm”, der oben erwähnte alte Neuwieder und spätere Genosse der Niederhessischen Bande, sei wieder aufgetaucht. Nach einem Diebstahl im Fuldaer Dom habe er sich nach Oldenburg gewandt, sei von dort mit Oldenburger Pass zurückgekommen und habe mit einigen Genossen jetzt seinen Schlupfwinkel bei dem Forstläufer Behrends in Braunau bei Bad Wildungen. Die Nachforschungen haben ein negatives Ergebnis. Wie zu erwarten gewesen ist, hat es sich bei der Aussage des Störmer um „Zellenklatsch” gehandelt. Mit der Unterdrückung der Gaunerbanden ist selbstverständlich nicht, auch nicht bloß vorübergehend, das Berufsverbrechertum beseitigt. Aber das Berufsverbrechertum der Zeit nach etwa 1830 ist anderer Art als das frühere. Es gibt im sozialen Rechtsstaat, zu dem wir uns nach vielfachen sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen entwickelt haben, keine soziale Schicht oder Menschengruppe mehr, die als solche ehrlos und rechtlos außerhalb der Gesellschaft stünde. Dafür hat das Berufsverbrechertum mit der ihm eigenen Gerissenheit neue und andere Formen der Betätigung gefunden, die ihrerseits wieder andere Bekämpfungsmaßnahmen als früher verlangt. Es hat die schwachen und kranken Stellen innerhalb der Gesellschaft selbst entdeckt und sich dort eingenistet. Ist noch vor etwa 150 Jahren das Verhältnis der Gesellschaft zum Verbrechertum dem einer belagerten Stadt zu dem außerhalb ihrer Mauern stehenden Feind zu vergleichen gewesen, so ist es heute das eines Körpers zu den in ihm selbst steckenden Krankheitserregern.


Benutztes Schrifttum
  • 1 AVÉ LALLEMANT, Fr. Chr. B.: Das deutsche Gaunertum (Lübeck 1858). Neu herausgegeben von B. Brauer (1914). DIGITALISAT
  • 2 Derselbe: Die Mersener Bockreiter (1880). DIGITALISAT
  • 3 BADER, K.: Aufgaben, Methoden und Grenzen einer historischen Kriminologie – Schweizer Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft (1956).
  • 4 ELWENSPOEK, K.: Schinderhannes (1953).
  • 5 FABRICIUS, W.: Die deutschen Corps (Berlin 1898).
  • 6 GÜNTHER, LOUIS: Das Rotwelsch des deutschen Gauners (1902). DIGITALISAT
  • 7 HAMPE, TH.: Die fahrenden Leute – STEINHAUSENS Monographien zur deutschen Kulturgeschichte, Band IX (1909).
  • 8 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. unter bes. Mitwirkung von EDUARD HOFFMANN-KRAYER und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hans BÄCHTHOLD-STÄUBLI, 1—16 (1930—1942).
  • 9 HIS, RUF.: Deutsches Strafrecht im Mittelalter (Leipzig 1920).
  • 10 HOLTMEYER, ALOIS: Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel, Band VL Kreis Cassel-Stadt (Marburg/L. 1923).
  • 11 KÖSER, E.: Der Große Galantho — Unter der Dorflinde, Zeitschrift des Odenwaldklubs (1926).
  • 12 KRAFT, GÜNTHER: Historische Studien zu Schillers Schauspiel „Die Räuber“ (Weimar 1959).
  • 13 KRAUS, IRENE: Die Kriminalität des Dreißigjährigen Krieges auf der Grundlage der Werke Grimmelshausens, (Diss. Heidelberg 1950).
  • 14 LANDAU; GEORG: Die hessischen Ritterburgen und ihre Besitzer (1833—1839)
  • 15 LIEB, GEORG: Das Judentum in der deutschen Vergangenheit – STEINHAUSENS Monographien zur deutschen Kulturgeschichte, Band IX (1903).
  • 16 MEZGER, EDM.: Kriminologie (1951).
  • 17 MICHEL: Die Bockreiter im Lande zu Herzogenrath — Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins (1882).
  • 18 MÜLLER, LUDWIG: Aus sturmvoller Zeit (Marburg 1891).
  • 19 PFEFFER: Merkwürdige und auserlesene Geschichte der berühmten Landgrafschaft Thüringen (Gotha 1684).
  • 20 RADBRUCH, GUSTAV UND HEINRICH GWINNER: Geschichte des Verbrechens (1951).
  • 21 SCHMIDT, EBERHARD: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (1951).
  • 22 SPIEGEL, NIKOLAUS: Gelehrtenproletariat und Gaunertum vom Beginn des 14. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts — Schweinfurter Gymnasialprogramm (1901).
  • 23 STRENG, ADAOLF: Studien über Entwicklung, Ergebnisse und Gestaltung der Freiheitsstrafen in Deutschland (Stuttgart 1896).
  • 24 Volkskalender, hessischer (1903): Aktenmäßige Darstellung des Postraubs in der Subach 1826, LINK
  • 25 PITAVAL, Der Neue, XVII 6. Teil (1852).

Gedruckte Quellen

  • 1 Anklageurkunde gegen einen Teil der großen Räuberbande, welche bei dem königlichen Kriminalgerichtshof des Werradepartements in Untersuchung gewesen (Marburg 1812).
  • 2 Anklageurkunde gegen eine Räuber- und Diebesbande, die Lumpensammlerbande genannt, welche bei dem königlichen Kriminalgerichtshof des Werra-
    Departements in Untersuchung gewesen (Marburg 1813).
  • 3 BECKER, B.: Rheinische Räuberbanden (Köln 1804). DIGITALISAT
  • 4 BRILL, F.C.: Aktenmäßige Nachrichten von dem Raubgesindel in den Maingegenden, im Odenwald und den angrenzenden Ländern (Darmstadt 1814). DIGITALISAT LINK
  • 5 Bundeskriminalstatistik 1960. LINK
  • 6 GROLMANN, F. L. von: Aktenmäßige Geschichte der Vogelsberger und Wetterauer Räuberbanden (Gießen 1813). DIGITALISAT LINK
  • 7 Aktenmäßige Nachricht von einer zahlreichen Diebesbande, welche von einem zu Hildburghausen in gefänglicher Haft sitzenden mitschuldigen Dieb entdecket worden (1753), sogenannte „Hildburghäuser Protokolle.* [ * Zwei weitere, etwas ältere, aber denselben Personenkreis betreffende Gauner:
    listen, die sogenannte Themarer und die Massfelder Liste, befinden sich nur handschriftlich in Thüringer Landesarchiven und waren leider nicht zugänglich
    .]
  • 8 GRIMMELSHAUSEN, J. CHR. von: Das wunderbarliche Vogelnest; Abdruck der Originalausgabe von 1672, hrsg. von I. H. Scholten (1931). LINK
  • 9 Derselbe: Der abenteuerliche Simplicissimus, hrsg. von Alfred Kelletat. Ausgabe des Winklerverlags. LINK
  • 10 Casselsche Zeitung von Polizey- und Commerciensachen, Jahrgänge 1731—1800. LINK
  • 11 Verzeichnis der in gefänglichen Haften befindlichen Vagabunden, welche Mitglied einer Räuberbande gewesen (Marburg, undatiert, den Namen nach an«
    scheinend 1813).
  • 12 Landesordnungen, Sammlung sämtlicher hochfürstlich hessischen Gesetze und… (HLO).
  • 13 PFEIFFER: Stammtafeln mehrerer Gaunerfamilien in der Provinz Niederhessen (Kassel 1828). DIGITALISAT
  • 14 PFEIFFER, BURCKHARDT WILHELM: Praktische Ausführungen aus allen Teilen der Rechtswissenschaft, Band II (1828),
  • 15 PFISTER: Aktenmäßige Geschichte der Räuberbanden an beiden Ufern des Mains, im Spessart und im Odenwalde (Heidelberg 1812). DIGITALISAT LINK
  • 16 Abriss des Jauner- und Bettelwesens in Schwaben von dem Verfasser des Konstanzer Hans [id est: Oberamtmann SCHÄFFER in Sulz am Neckar] Stuttgart 1793).
  • 17 SCHWENCKEN, C. PH.: Aktenmäßige Nachrichten von dem Gauner- und Vagabundengesindel in den Ländern zwischen der Elbe und dem Rhein (Kassel 1822). DIGITALISAT LINK
  • 18 Derselbe: Notizen über die berüchtigtsten jüdischen Gauner und Spitzbuben (Kassel 1820). DIGITALISAT
  • 19 Ergebnisse einer von dem Großherzoglichen Kriminalgericht in Eisenach geführten Untersuchung hinsichtlich des Gaunerwesens in den Amtsbezirken Eisenach, Kreuzburg, Gerstungen, Vacha, Tiefenort sowie den angrenzenden kurfürstlich-hessischen Ortschaften (Eisenach 1830).
  • 20 WEISSENBRUCH, JOH. BENJ.: Ausführliche Relation von der Famosen Zigeuners-, Diebs–, Mord» und Räuberbande, welche… 1726 zu Gießen justifizieret (Frankfurt und Leipzig 1726). DIGITALISAT

Handschriftliche Quellen

Benutzt wurden folgende Aktenbestände des Staatsarchivs in Marburg:

1 Alte Kriminalakten (ab 1567), durchgesehen Paket 1-25, 62, 63, vorwiegend Akten aus dem Oberfürstentum enthaltend: Bestand 260.
2 Acta betreffend die anbefohlene Generalstreifung gegen die Vagabunden und das liederliche Gesindel im Lande (1723, 1728, 1729): Bestand 17 11/1929.
3 Bettler- und Vagabundenbericht 1732: Bestand 17 II Nr. 1913.
4 Des Amtmanns Hattenbach zu Abterode Bericht über sich einschleichende Vagabunden (1733): Bestand 17 II Nr. 1906.
5 Vaganten und deren Hinwegschaffung betreffend (1744): Bestand 17 Il Nr. 1930.
6 Betreffend Streifung gegen die Vaganten am Diemelstrom (1745): Bestand 17 II Nr. 1909,
7 Die durch die auf dem Lande liegende Kavallerie veranstaltete Arretierung von Vagabunden (1750): Bestand 17 IE Nr. 1932.
8 Die von dem Amtmann Becker angezeigte Herumstreifung der Diebesbanden und dagegen vorzukehrende Mittel (1751/52): Bestand 17 II Nr. 1909.
9 Acta, die zu Rüstungen auf dem Eichsfelde sich aufhaltende Diebesbande betreffend (1748/49): Bestand 17 II Nr. 1907,
10 Acta, die Verminderung der Diebstähle und was deswegen weiter verordnet betreffend (1788—93): Bestand 5 (Geheimer Rath) Nr. 12003.
11 Bericht der Marburger Regierung betreffend Räuberbanden in der Marburger Gegend (1805): Bestand 5 (Geheimer Rath) Nr. 1153.
12 Bad Brückenauer Kongreßakten, öffentliche Sicherheitsanstalten betreffend (1805): Bestand 17 g Gefach Nr. 39 1b.
13 Acta generalia: Verordnung der gegen Bettler, Vagabunden und Gauner zu ergreifenden Maßregeln (1822-37): Bestand 17 g Gefach 39 Nr. 1.
14 Akten betreffend die an der Fürstlich«”Waldeckischen Grenze herumstreifenden Gaunerbanden (1822—27): Bestand 24 d/22.
15 Akten betreffend Herumstreifens einer Gaunerbande in der Wetterau (1826): Bestand 24 d Nr. 24,